Inhalt der Printausgabe

Die schlesische Stunkfunze

Verehrt, vereinnahmt, vergessen:
Über den schlesischen Komiker Ludwig Manfred Lommel

 

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Wegen der ewigen Bombenangriffe verfügt sich der komische Schwerenöter mit seiner schwangeren Gattin im September 1944 von Berlin auf ein 20 Kilometer östlich von Frankfurt/Oder angekauftes Landgut, Kulisse einer Vierteljahresepisode, bis die Rote Armee anrückt. Kurz vor Weihnachten, Sohn Ulli ist gerade zwei Wochen alt, lassen sie den versinkenden Osten hakenschlagend wieder hinter sich; Berlin (wo sie jede Nacht dreimal mit dem Kinderwagen in den Keller müssen), Benneckenstein im Harz und Rhumspringe bei Göttingen sind Zwischenetappen, auch für Lommels erste Gattin und Tochter Ruth. Kurzzeitig haust der Clan unter einem Dach (der zweite Sohn Werner ist gefallen), während Lommel erste Nachkriegsfühler ausstreckt. Im November 1945 übersiedelt er mit Karla und Kind nach Bad Sachsa, der alte Runxendorf-Betrieb kommt auf behelfsmäßigen Bühnen wieder in Gang, improvisiert zwar, aber unter wohltätigem Vorzeichen: Paul und Pauline finanzieren das »Reichsbund«-Kriegsversehrtenheim im dortigen Schützenhaus mit.

 

Landauf, landab organisiert Lommel in den kommenden Jahren Wäscheposten für Flüchtlingsheime und Kriegsgefangenenspeisungen, beschert, ab 1949 nochmals Vater, zu Weihnachten regelmäßig Dutzende Flüchtlingskinder und quecksilbert in gewohnter Rastlosigkeit von Wohnsitz zu Wohnsitz, über Bad Sachsa weiter nach Kassel und Wildeshausen. Er verunglückt beinahe bei einem Verkehrsunfall, gastiert im Zirkus und als »Hauptmann von Köpenick«, legt seine Bücher neu auf und bewältigt als »Botanik-Professor Hummel« im 1956er »Christel von der Post«-Aufguß seinen einzigen Auftritt in Technicolor. Der Hessische Rundfunk läßt ihn Potpourris seiner früheren Sketche zu Hörbildern zusammenbasteln, und auch andere Sender holen ihn zu »Runxendorf«-Remakes. Zum 65. Geburtstag übereignet Bundespräsident Heuss das Bundesverdienstkreuz, daheim bleibt der Humorist aber ganz der Alte. Karla Lommel: Zu Hause war’s immer ganz ernst. Und etwas, was er nie vertragen konnte, war, daß wir über andere Leute lachen konnten. Ich kann mich erinnern, mein Sohn und ich gingen mal in einen Film mit Karl Valentin, und wir kamen nach Hause, und die Tränen kullerten noch über die Backen. So was hat er sich nicht angesehen. Und dann haben mein Sohn und ich gesagt: Nein, war das komisch, und die Lisl Karlstadt und die Szenen und das alles. Und er tat so, als ob er nicht gehört hat, und hat gesagt: »Gelacht wird über mich.«

 

Was insgesamt auch noch 1 Nachkriegsjahrzehnte praktiziert wurde, allerdings vorwiegend in unsachgemäßer Vereinnahmung: Die entwurzelten Landsleute wollten Lommels Runxendorf samt permanentem Zwiespalts-Impetus jetzt nur noch als Wehmutstorte an Kaffeenachmittagen konsumieren. So stand ein unpolitischer Alleinunterhalter am Ende mit einem Programm da, das die politische Entwicklung beispiellos verfremdet hatte. Ganz im Sinne Paulines scherte ihn das aber nicht, und bis zum letzten Tag reiste er auf diesem Als-ob-Ticket trostspendend durch die Lande; bis ihm am 18. September 1962 in Bad Nauheim nach der Vorstellung im Kurhaus schlecht wurde und er sich in sein Hotelbett legte, wo ihn am nächsten Tag um zwölf mit der Mittagsglocke ein Herzschlag abberief.

 

Seitdem west sein Schlemihl-Vermächtnis einigermaßen fehletikettiert in der Devotionalien-Hülle landsmannschaftlicher Brauchtumspflege: Als wenn, hätten 1945 statt der Schlesier die Bayern ihr Land geräumt, sich letzte Dirndl- und Gamsbartträger im Bundesland Ostpreußen zuweilen an Valentin-Aufnahmen erbauten. Trost angesichts dieser anscheinend irreversiblen Überlagerung durch Heimattümelei gewährt so bis auf weiteres nur das Treiben seines Sohnes Ulli: Von dessen Anfängen als Ufa-Nachwuchsstipendiat, »Bravo«-Boy ’67 und Hauptdarsteller in der »Fanny-Hill«-Verfilmung des Busokraten Russ Meyer über Ehen und Liaisons mit der Mobiloil-Erbin Suzanna Love und der dänischen Godard-Muse Anna Karina nebst Fassbinder-Adjutantentum als Gangster Straub in »Liebe ist kälter als der Tod« und Major Crampas in »Effi Briest« bis hin zu Regie-Scharlatanerien wie den Andy-Warhol-Spin-Offs »Blank Generation« und »Cocaine Cowboys«, Lederhosen-Sex (»Jodeln is ka Sünd«), NS-Fiction (»Adolf und Marlene«, laut Selbst-PR angeblich basierend auf einer denkwürdigen Begegnung meines Vaters mit Adolf Hitler) und dem Daniel-Küblböck-Monsterflop »Der Zauberer« von 2004 (Kamera: Lommels Bruder Manuel) blinkt wenigstens da die gute alte väterliche Stunkfunze gelegentlich noch mal kräftig durch.

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Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

 Persönlich, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck,

nehmen Sie inzwischen offenbar alles. Über den russischen Präsidenten sagten Sie im Spiegel: »Putin war in den Achtzigerjahren die Stütze meiner Unterdrücker.« Meinen Sie, dass der Ex-KGBler Putin und die DDR es wirklich allein auf Sie abgesehen hatten, exklusiv? In dem Gespräch betonten Sie weiter, dass Sie »diesen Typus« Putin »lesen« könnten: »Ich kann deren Herrschaftstechnik nachts auswendig aufsagen«.

Allerdings hielten Sie sich bei dessen Antrittsbesuch im Schloss Bellevue dann »natürlich« doch an die »diplomatischen Gepflogenheiten«, hätten ihm aber »schon zu verstehen gegeben, was ich von ihm halte«. Das hat Putin wahrscheinlich sehr erschreckt. So richtig Wirkung entfaltet hat es aber nicht, wenn wir das richtig lesen können. Wie wär’s also, Gauck, wenn Sie es jetzt noch mal versuchen würden? Lassen Sie andere Rentner/innen mit dem Spiegel reden, schauen Sie persönlich in Moskau vorbei und quatschen Sie Putin total undiplomatisch unter seinen langen Tisch.

Würden als Dank auf die Gepflogenheit verzichten, Ihr Gerede zu kommentieren:

die Diplomat/innen von der Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
18.04.2024 Berlin, Heimathafen Neukölln Max Goldt
18.04.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt