Humorkritik | August 2018

August 2018

»Beim Abendessen gerieten selbst die faulsten Zungen ins Schwätzen. Da wurde von allem und jedem geredet, wer sich neue Hosen hatte machen lassen und wie es im Innern der Erde aussehe und wer ­einen Wolf erblickt hatte; hier gab’s auch eine Menge Witzbolde, an denen ja unter den Kleinrussen kein Mangel ist.«
Nikolai Gogol, »Der Wij«

Wegrollen ginge aber

Zwei Rollstuhlfahrer wollen nächtens über ein Gleis fahren. Leider klappt es nicht recht, einer stürzt und bittet den anderen, ihn ­angesichts des herannahenden Zuges einfach liegen zu lassen, da das Leben als ­Behinderter ohnehin nicht besonders ­lebenswert sei. Der zweite überzeugt ihn aber flugs, sich an seinem Rollstuhl festzuhalten und sich so von den Gleisen zerren zu lassen. Gesagt, getan: John Callahan (Joaquin Phoenix) erzählt seiner Freundin diese Anekdote mit leuchtenden Augen und findet, das sei ziemlich lustig. Und Gus Van Sant, der Regisseur von »Don’t Worry, weglaufen geht nicht« (ab 16. August im Kino), gibt sich Mühe, die kleine Geschichte so darzustellen, dass klar wird, welchen Blick auf die Dinge er für nötig hält, um nicht nur im Banalen und Alltäglichen, sondern auch im Traurigen Komik erkennen zu können.

Dabei ist dieses Biopic über John Callahan, den berühmten amerikanischen Cartoonisten im Rollstuhl, der in seiner internatio­nalen Karriere u.a. auch für TITANIC zeichnete, keine klassische Komödie; komische Situationen entstehen, siehe oben, eher ­nebenbei. Leider weiß Gus Van Sant nicht recht, was er erzählen will. So konzentriert er sich auf Callahans Sitzungen bei den ­Anonymen Alkoholikern und auf die Figur des reichen, homosexuellen Mentors und Freundes Donnie (Jonah Hill), was keine gute Wahl ist. Denn dessen esoterische ­Philosophiererei von einer »höheren Macht«, der sich Callahan anvertrauen müsse, wird zum zentralen Motiv des Film. Van Sant hielt es offenbar für einen Quell der Komik; mehr als lahme Scherze über diese höhere Macht springen aber nicht heraus. Während etwa Donnies »Gott« Chucky, die Mörderpuppe ist, findet es Callahan lustig, sich ­»Raquel Welchs Möse« fetischistisch unterzuordnen – na ja.

So schleppt sich bzw. rollt der Film weitgehend uninspiriert dahin, was ein bisschen schade ist, denn einiges Schöne hat er durchaus zu bieten: Die Geschichte wird hübsch unchronologisch erzählt, das Chaos in Callahans Leben findet formal Ausdruck in Anekdoten, Rückblenden und motivischem Durcheinander, und als ihm eine ­Therapeutin erklärt, wie er trotz Lähmung Sex und Erektionen haben könne (»die Frau muss sich auf dein Gesicht setzen«), oder wenn es über die High Society heißt, ihre Mitglieder würden »immerzu über ihre Verdauung ­reden – weil sie Arschlöcher sind«, dann kommt durchaus Freude auf. Leider bleibt Callahans Wirken als Zeichner nur ein ­Nebenaspekt, obwohl eine der besten Ideen des Films darin besteht, seine Cartoons in Animationen zu verwandeln. Ähnlich stiefmütterlich wird die Liebesgeschichte mit Annu (Rooney Mara) behandelt, einer Therapeutin in der Reha-Klinik, die Callahan im Film später wiedertrifft: als ­Figur bleibt sie ein Fremdkörper, was sich wohl damit ­erklärt, dass sie nicht Callahans Biografie entspringt, sondern ein Mix aus verschie­denen Frauen ist, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben – was dazu führt, dass die Therapeutin plötzlich zu einer Stewardess mutiert. Wirklich ärgerlich ist obendrein die Botschaft, wonach irgendwie alles gut wird, wenn man nur will, glaubt, ­verzeiht und sich zusammenreißt. Zum Glück gilt im Kinosessel nicht dasselbe wie im Rollstuhl: Weglaufen geht sehr wohl.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Ganz schön kontrovers, James Smith,

was Du als Mitglied der britischen Band Yard Act da im Interview mit laut.de vom Stapel gelassen hast. Das zu Werbezwecken geteilte Zitat »Ich feiere nicht jedes Cure-Album« hat uns jedenfalls so aufgewühlt, dass wir gar nicht erst weitergelesen haben.

Wir mögen uns nicht ausmalen, zu was für heftigen Aussagen Du Dich noch hast hinreißen lassen!

Findet, dass Provokation auch ihre Grenzen haben muss: Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Nachdem Sie eine Klage wegen Rufschädigung eingereicht haben, wird nun voraussichtlich ein Prozess gegen den britischen Rockstar Brian Molko eingeleitet. Dieser hatte Sie bei einem Konzert seiner Band Placebo in Turin als Nazi und Faschistin bezeichnet.

Wir finden, da könnten Sie sich mal etwas lockermachen. Wer soll denn bitte noch durchblicken, ob Sie gerade »Post-«, »Proto-« oder »Feelgood-« als Präfix vor »Faschistin« bevorzugen? Und: Wegen solcher Empflichkeiten gleich vor Gericht zu gehen, kostet die Justiz so viel wertvolle Zeit. Die könnte sie doch auch nutzen, um Seenotretter/innen dingfest zu machen oder kritische Presse auszuschalten. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht, Sie Snowflake?

Schlägt ganz gelassen vor: Titanic

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg