Humorkritik | Mai 2017

Mai 2017

»Das war wieder The Joy of Grief, die Wonne der Tränen, die ihm von Kindheit auf in vollem Maße zuteil ward, wenn er auch alle übrigen Freuden des Lebens entbehren mußte. Dies ging so weit, daß er selbst bei komischen Stücken, wenn sie nur einige rührende Szenen enthielten, als z.B. bei der Jagd, mehr weinte als lachte …«
Karl Philipp Moritz, »Anton Reiser«

Guter Stil

Regeln soll man befolgen und kann man brechen; wem letzteres zu plump ist, der kann das Regelwerk durch Übererfüllung ins Lächerliche ziehen. Der französische Surrealist Raymond Queneau exerzierte ebendas in seinen »Stilübungen« vor, die erstmals 1947 erschienen und 2016 von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel neu übersetzt wurden (Suhrkamp; soeben auch mit einem Übersetzerpreis belobigt). Eine banale Geschichte mit lauter unwichtigen Details und ohne richtigen Schluß oder gar Pointe bildet die Grundlage: In einem Pariser Bus beschwert sich ein junger Mann mit langem Hals und Hut bei einem Fahrgast, weil der ihn angerempelt habe, und setzt sich dann, ohne eine Antwort abzuwarten, auf einen frei werdenden Platz. Zwei Stunden später sieht man den jungen Mann auf dem Bahnhofsvorplatz, wo ihm ein Freund rät, sich oben an seinem Mantel einen Knopf machen zu lassen.

Das erzählt Queneau auf rund 120 verschiedene Weisen, in Alexandrinern, als Traumprotokoll, im Stil eines Schauerromans oder in Form einer Spielanleitung, in der Manier eines Reaktionärs, in der Sprache einer Lesbierin: lauter kleine, oft sehr komische oder wenigstens komisch ansetzende Experimente, etwa wenn Queneau aus dem Vorfall eine Mengenlehre-Aufgabe bastelt: »Im Autobus S sei A die Menge der sitzenden Fahrgäste und B die Menge der stehenden Fahrgäste. An einer bestimmten Haltestelle befindet sich die Menge P der wartenden Personen. Es sei E die Menge der einsteigenden Fahrgäste, eine Teilmenge von P und selbst die Summe von E′, den Fahrgästen, die auf der Plattform bleiben, und E″, denjenigen, die« – na usw.

Der Leser kann sich von dieser Experimentierfreude affizieren lassen und, wie die Übersetzer selbst, der Versuchung erliegen, eigene Stilübungen zu Papier zu bringen. Wer will, kann tiefe theoretische Gedankengänge bohren, denn die Macht der Regeln ins Komische ziehen heißt auch, sich verdeckt über die Macht selbst zu mokieren; und eine an sich bedeutungslose Geschichte so wichtig zu nehmen wie Queneau untergräbt die Hierarchie von wichtig und unwichtig und unterminiert die alltägliche Erwartung ebenso wie die literarische Großnorm des Erzählenswerten. Mehr noch: Die Stilübungen haben sogar prophetische Qualität, weil die vorgeführte mechanische Ausführung der Regeln den Menschen zur Maschine, zum Computer degradiert. Zuguterletzt lassen sich die Texte als geschickt verdeckte Gesellschaftskritik deuten, weil die Verengung der Perspektive auf ein einziges Stilmittel jene moderne, hochgradige Spezialisierung widerspiegelt, die es den Leuten unmöglich macht, sich allgemeinverständlich auszudrücken und Kommunikation über ihre »Community« hinaus zu betreiben; sie bleiben eingepfercht in ihrem Expertenwissen oder eingeschlossen in ihrer Weltanschauung.

Man kann das Ganze aber auch einfach als entspannendes, befreiendes Spiel genießen.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Du, »Hörzu Wissen«,

weißt, wie Werbung geht! Mit »Die Sucht zu töten« machtest Du so richtig Lust auf Deine aktuelle Ausgabe, um erläuternd nachzulegen: »Bestialisch, sadistisch, rätselhaft: Was Menschen zu mordenden Monstern macht – acht Täter und die Geschichten ihrer grausamen Verbrechen.«

Wer kann sich da der Faszination der »dunklen Welt der Serienkiller« noch entziehen? Aber am Ende, liebe Hörzu Wissen, ist in diesem Zusammenhang doch die Implikation Deines Slogans »Hörzu Wissen – das Magazin, das schlauer macht!« das Allergruseligste!

Da erschauert sogar

Die True-Crime-resistente Redaktion der Titanic

 Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Rrrrr, Jesus von Nazareth!

Im andalusischen Sevilla hast Du eine Kontroverse ausgelöst, der Grund: Auf dem Plakat für das Spektakel »Semana Santa« (Karwoche) habest Du zu freizügig ausgesehen, zu erotisch, ja zu hot!

Tja, und wie wir das besagte Motiv anschauen, verschlägt es uns glatt die Sprache. Dieser sehnsüchtige Blick, der kaum bedeckte anmutige Körper! Da können wir nur flehentlich bitten: Jesus, führe uns nicht in Versuchung!

Deine Dir nur schwer widerstehenden Ungläubigen von der Titanic

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Gebt ihnen einen Lebenszyklus!

Künstliche Pflanzen täuschen mir immer gekonnter Natürlichkeit vor. Was ihnen da aber noch fehlt, ist die Fähigkeit zu verwelken. Mein Vorschlag: Plastikpflanzen in verschiedenen Welkstadien, damit man sich das Naserümpfen der Gäste erspart und weiterhin nur dafür belächelt wird, dass man alle seine Zöglinge sterben lässt.

Michael Höfler

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.05.2024 Mettingen, Schultenhof Thomas Gsella
03.05.2024 Stuttgart, Im Wizemann Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
04.05.2024 Gütersloh, Die Weberei Thomas Gsella
04.05.2024 Jena, F-Haus Martin Sonneborn mit Sibylle Berg