Humorkritik | November 2010

November 2010

Mißverständnis I: Depardieu

Das mag man gar nicht glauben, daß ein Film, in dem ein sagenhaft wampenbehangener, langhaariger Gérard Depardieu sich auf einem wunderbaren »Münch Mammuth«-Motorrad auf eine Retro-Reise durch ein Prekärjob-Frankreich macht, weil er von seinen Ex-Arbeitgebern Quittungen für die Rente braucht, derart quälend geraten kann. Denn warum Benoît Delépine und Gustave de Kervern (»Louise Hired a Contract Killer«) ausgerechnet bei einem komisch gemeinten Roadmovie darauf bestehen, daß »herkömmliche Erzählformen ordentlich gegen den Strich gebürstet werden« (kino-zeit.de), erschloß sich mir nicht – wenn formale Ambitioniertheit bloß dazu da ist, eine gute Geschichte zu stören, wie sie ein Roadmovie (als Filmgroßmetapher) ja per se ist, dann werden die Ambitionen zu Mätzchen.

 

Nicht nur wird Depardieu gern von hinten gefilmt und läuft ihm ständig seine auf Zombie geschminkte, weil früh von der Münch gefallene Jugendliebe (Isabelle Adjani, immerhin) vors geistige Auge, auch ist »Mammuth« auf grobkörnigem, farbunechtem 16mm-Material aufgenommen, damit auch alles so aussieht wie vor vierzig Jahren mit Papas Super 8 gefilmt, inkl. gelegentlicher Überbelichtung und Wackeleffekt – »ein ästhetischer Kunstgriff« (kino-zeit.de), der aber (ganz anders als bei Wenzel Storchs »Sommer der Liebe«) bloß tautologisch ist und das wie angeklebt Wirkende der »Skurrilität« (ebd.) des Depardieuschen Ausflugs auf das unvergnüglichste unterstreicht. Wie die meisten Gags nicht aus der Geschichte entwickelt, sondern bloß behauptet werden: Depardieu (von hinten gefilmt) sitzt mit drei Herren in einem Speisesaal, ein Herr telefoniert mit seiner kleinen Tochter und beginnt vor Rührung und Schuldgefühl zu weinen; nach einer Weile weinen alle mit. Ende des Gags. Selten so nicht gelacht.

 

Dieses »Prinzip der permanenten Überraschung« (a.a.O.) – das aber gar nicht funktionieren kann, wenn auf strenge Linearität gepfiffen wird – wird vollends unerträglich, wenn es ins Sexuelle geht und sich Serge (Depardieu) mit seinem gleichaltrigen Cousin ins Bett legt, um sich wie zu Jugendzeiten eine gegenseitige Handentspannung zu gewähren. Das hat natürlich nicht die mindeste dramaturgische Begründung außer der, zwei alte Männer beim Wichsen zeigen zu können und eine Kleinstadtvorstellung von Skurrilität zu bedienen, die derlei »schreiend komisch« (Spiegel online) findet. Und als Serges Nichte, eine – jedenfalls in der deutschen Fassung – nervtötend retardiert redende Trashkünstlerin (Miss Ming, die gibt es wirklich), dem Hilfsarbeiter-Onkel den Reiz von Kunst und Selbstbestimmung beibiegt, fügt sich auch da ein Nicht-Einfall an den nächsten: Es wird in die Löcher einer Minigolfanlage gekackt, und als Mademoiselle sich trotzdem bewerben gehen muß, stört sie den Personalchef mitten in der von der Sekretärin gewährten Fellatio und schwätzt anschließend von Menstruationsblut und Schweinedärmen, damit der Skurrilitätspegel auch nicht sinkt und das Publikum nicht vergißt, daß es im Programmkino sitzt.

 

Auch die zwei guten Witze, die dem »poetisch-schrägen Märchen« (Stern, mon dieu) unterlaufen, halfen mir nicht über den Ärger hinweg, daß da wer versuchte, mich im ja auch nicht mehr taufrischen 21. Jahrhundert mit spätestpostmodernem Filmschulfirlefanz über den eklatanten Mangel an guten Drehbuch-, Witz- und Bildideen hinwegzutäuschen. Denn Bruch mit Erzählgewohnheiten gut und schön: Aber zu glauben, im komödiantischen Fach lasse sich fehlendes Handwerk problemlos durch Allotria ersetzen, ist und bleibt ein Mißverständnis.

  

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

 Bild.de!

»Springer hatte im Januar bundesweit für Entsetzen gesorgt«, zwischentiteltest Du mit einem Mal überraschend selbstreferenziell. Und schriebst weiter: »Nach der Enthüllung des Potsdamer ›Remigrations‹-Treffens von AfD-Politikern und Rechtsextremisten postete Springer: ›Wir werden Ausländer zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimnis. Das ist ein Versprechen.‹« Und: »In Jüterbog wetterte Springer jetzt gegen ›dahergelaufene Messermänner‹ und ›Geld für Radwege in Peru‹«.

Dass es in dem Artikel gar nicht um Dich bzw. den hinter Dir stehenden Arschverlag geht, sondern lediglich der Brandenburger AfD-Vorsitzende René Springer zitiert wird, fällt da kaum auf!

Zumindest nicht Titanic

 Grüß Gott, Businesspäpstin Diana zur Löwen!

Du verkaufst seit Neuestem einen »Anxiety Ring«, dessen »bewegliche Perlen« beim Stressabbau helfen sollen. Mal abgesehen davon, dass das einfach nur das hundertste Fummelspielzeug ist, kommen uns von ihren Nutzer/innen glorifizierte und zur Seelenerleichterung eingesetzte bewegliche Perlen an einer Kette verdächtig bekannt vor.

Ist für Dich natürlich super, denn auch wenn Du Deinen treuen Fans skrupellos das Geld aus der Tasche ziehst, in die Hölle kommst Du zumindest für diese Aktion sicher nicht.

Auch wenn dafür betet:

Deine Titanic

 Warum, Internet?

Täglich ermöglichst Du Meldungen wie diese: »›Problematisch‹: Autofahrern droht Spritpreis-Hammer – ADAC beobachtet Teuer-Trend« (infranken.de).

Warum greifst Du da nicht ein? Du kennst doch jene Unsichtbar-Hand, die alles zum Kapitalismus-Besten regelt? Du weißt doch selbst davon zu berichten, dass Millionen Auto-Süchtige mit Dauer-Brummbrumm in ihren Monster-Karren Städte und Länder terrorisieren und zum Klima-Garaus beitragen? Und eine Lobby-Organisation für Immer-Mehr-Verbrauch Höher-Preise erst verursacht?

Wo genau ist eigentlich das Verständlich-Problem?

Rätselt Deine alte Skeptisch-Tante Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Gebt ihnen einen Lebenszyklus!

Künstliche Pflanzen täuschen mir immer gekonnter Natürlichkeit vor. Was ihnen da aber noch fehlt, ist die Fähigkeit zu verwelken. Mein Vorschlag: Plastikpflanzen in verschiedenen Welkstadien, damit man sich das Naserümpfen der Gäste erspart und weiterhin nur dafür belächelt wird, dass man alle seine Zöglinge sterben lässt.

Michael Höfler

 Frage an die Brutschmarotzer-Ornithologie

Gibt es Kuckucke, die derart hinterhältig sind, dass sie ihre Eier anderen Kuckucken unterjubeln, damit die dann fremde Eier in fremde Nester legen?

Jürgen Miedl

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg