Humorkritik | Mai 2010
Mai 2010
Holbein über Kraus
Ich lese freilich nicht täglich die Frankfurter Rundschau, denn das wäre doch etwas zuviel verlangt von einem älteren Herrn mit begrenzter Lebenserwartung, der sich lieber mit vergnüglicheren Dingen beschäftigt – aber beim Googeln bin ich dann doch einmal auf einen Artikel gestoßen, der in der Rundschau erschienen ist. Darin hat der Schriftsteller Ulrich Holbein den Schriftsteller Karl Kraus ohne Beweisvorlage als »Allerweltsbesudler und Schmock« bezeichnet.
Unter einem »Schmock« versteht man gemeinhin einen snobistischen Faselhans und Fatzke, kurzum, eine selbstgefällige Labertasche. Was man sich unter einem »Allerweltsbesudler« vorzustellen hat, ist vermutlich eine Person, die ihre Mitmenschen grundlos und wahllos mit unflätigen Schimpftiraden überzieht. Wen oder was aber, frage ich mich, könnte der Satiriker und Polemiker Karl Kraus bei seinen Angriffen auf die Bigotterie, die Korruption, die Grausamkeit und die Dummheit seiner Zeitgenossen jemals »besudelt« haben? Die mörderische österreichische Sexualjustiz? Die Revolverpresse? Den homophoben Schlafzimmerschnüffler Maximilian Harden? Die Ehre der Idioten, die den Ersten Weltkrieg angezettelt haben? Den verlogenen Kriegsbarden Alfred Kerr? Den Drecksblattverleger und Erpresser Imre Bekessy?
Unter den Opfern der Polemik von Karl Kraus finde ich kein einziges, das von ihm »besudelt« worden wäre. Besudelt fühlten sie sich nur, weil er ihre Sudeleien in der Fackel zitiert hatte. Und nun muß Karl Kraus damit fortleben, daß er in der Frankfurter Rundschau als »Allerweltsbesudler und Schmock« präsentiert worden ist. Ich überlasse es der Nachwelt zu entscheiden, welcher Schmock in diesem Fall gesudelt hat.