Humorkritik | Dezember 2008

Dezember 2008

Das intensive Vergnügen

Wovon Literaturhistoriker etwas verstehen? Von Literatur wohl kaum, denn den großen Massimo Bontempelli erwähnen sie in ihren Literaturgeschichten erstens überhaupt nicht, zweitens allenfalls beiläufig, und wenn drittens, wie in Kindlers Literaturlexikon, immerhin drei seiner Werke vorgestellt werden, so gelten sie als so lala. Bontempellis zwei großartige Romane aus dem Jahr 1919 aber, »Das geschäftige Leben« und »Das intensive Leben«, werden nirgends genannt, geschweige denn gelobt und gerühmt. Sondern bloß hier.

Der erste ist eine Satire auf die Hatz nach Geld und Erfolg, der zweite auf Alltagsleben und Abenteuersucht. Ein aus dem Krieg heimgekehrter Schriftsteller, für den Bontempelli sich wohl selbst Modell stand, steht staunend im Gewimmel der Großstadt und kriegt sich nicht mehr ein angesichts des dichten Verkehrs, der prallen Cafés und ­fetten Läden. »Bei Gott«, sagt er sich, »hier muß ein Weg her, möglichst viel Geld zu machen«, und stürzt sich ins »geschäftige ­Leben«. Er wirft den Dichter über Bord, wird Kaufmann und versucht sich als Reklamefritz, als Bauspekulant, als Brennholz­händler, doch eine Winzigkeit hat er übersehen: Er ist kein Kaufmann, sondern Dichter. Er ver­bummelt die Tage, schwelgt in Träumen und Phantasien und verpaßt seine Termine, weil er ­lieber im Bettchen bleibt: »Auch wenn ich mich noch so beeilte, es war unmöglich, vor sieben Uhr vierzig bei Seiner Exzellenz zu sein. Wenn er mich nicht sah, konnte er ­denken, ich sei tot; nichts aber würde eine Verspätung rechtfertigen können. Ich kroch wieder unter die Decke.«

Angesichts des geschäftigen Gemaches der Geldleute erscheint dieses zweckfreie Dasein und holde Nichtstun schon wie die Utopie eines freien, menschenwürdigen Zeitalters. Als verfehlt erweist sich aber nicht nur die Hetzjagd nach den Moneten. Auch des Schriftstellers Gier nach dem »intensiven Leben« wird zuschanden, entpuppen sich die gewollten Sensationen doch als stinkgewöhnliche Ereignisse, z.B. weil der Held eine Haltestelle zu spät aussteigt: »Aristoteles, den ich immer wieder einmal werde zitieren müssen, sagt, daß einer, wenn er zu weit gegangen ist, ein Stück zurückgehen muß«, lautet der dazu passende Trost und Rat, und überhaupt werden die simplen Aktionen immer wieder vom Geist überwölbt, so wenn Bontempelli eine gründliche Theorie des Zigarettendrehens entwickelt oder demonstriert, wie man von der Anzahl der Füße auf die Anzahl der Personen schließen kann.

Mit pompös aufgemotzter Banalität macht sich Bontempelli über die gewollte Dramatisierung des Alltags (die übrigens wenig später in Faschismus und Stalinismus ganz ernstlich betrieben werden sollte) und auch gleich über die herkömmliche Literatur und den traditionellen Roman lustig. So zerfällt »Das intensive Leben« in lauter selbständige »Abenteuerromane«, von denen manche nur zehn Seiten lang sind; ein »Vorwort« lautet: »Dieser Roman hat kein Vorwort, weil er keins braucht«, und wenn der Autor plötzlich aus erzähltechnischen Gründen erkennt: »Und hier ist es nötig, einen Schritt zurück zu tun«, so heißt das nächste Kapitel eben: »Tun wir ihn«. Bei soviel Willkür kommt es, wie es kommen muß, es kommt zur Revolte.

Zwei Jahre, bevor Luigi Pirandello sich die Idee mopste und für sein notorisches Bühnenstück »Sechs Personen suchen einen Autor« verwurstete, und zwanzig vor Flann O’Brien, der das Motiv in seinem burlesken Roman »Auf Schwimmen-Zwei-Vögel« zugegebenermaßen schön auswalzte, mucken in Bontempellis »Intensivem Leben« die Romanfiguren gegen ihren Autor auf. Verfolgt von seinen Geschöpfen, flieht er nach Hause. Doch zum Romanpersonal gehört immer einer mehr, als man denkt: »Als ich eingetreten war und die Tür sorgfältig wieder geschlossen hatte, sah ich, wie mir im Vorraum jemand entgegenkam. Das war ich.«

Pirandello wird bis heute durch alle Literaturgeschichten geschleppt, und Flann O’Brien hat, wenn schon keine Literatur­historiker, so doch Leser. Massimo Bontempellis Spitzenromane »Das geschäftige Leben« und »Das intensive Leben« aber? Mit einigem Glück findet man sie noch im Antiquariat.

»Warum schreibe ich diesen Roman? Ich schreibe ihn für die Nachwelt. Ich schreibe ihn, um den europäischen Roman zu erneuern«, verkündete Bontempelli mit ernsthafter Ironie im Vorwort zum »Intensiven Leben«. Die Nachwelt, liebe Leser, das sind Sie.

  

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Helen Fares, c/o »SWR« (bitte nachsenden)!

Sie waren Moderatorin des Digital-Formats MixTalk und sind es nun nicht mehr, nachdem Sie ein launiges kleines Video veröffentlicht haben, in dem Sie zum Boykott israelischer Produkte aufriefen, mit Hilfe einer eigens dafür programmierten App, die zielsicher anzeigt, wo es in deutschen Supermärkten noch immer verjudet zugeht (Eigenwerbung: »Hier kannst Du sehen, ob das Produkt in Deiner Hand das Töten von Kindern in Palästina unterstützt oder nicht«).

Nach Ihrem Rauswurf verteidigten Sie sich in einem weiteren Video auf Instagram: »Wir sind nicht antisemitisch, weil wir es boykottieren, Produkte von Unternehmen zu kaufen, die Israel unterstützen. Ein Land, das sich vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Genozid verantworten muss, weil es Zehntausende von Menschen abgeschlachtet hat.« Da sich aber auch Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum Genozid verantworten muss, war Ihre Kündigung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ja ohnehin einvernehmlich, oder?

Kann es sich nicht anders vorstellen: Titanic

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

 Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Die Bunte zitiert Sie mit der Aussage: »Um zu überleben, muss man gesund sein, und wenn man am gesündesten ist, sieht man einfach auch am jüngsten aus!« Gut, dass Sie diese Erkenntnis an uns weitergeben!

Geht jetzt zur Sicherheit bei jeder neuen Falte, Cellulitedelle und grauen Strähne zum Arzt:

Ihre greise Redaktion der Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Empfehlung für die Generation Burnout

Als eine günstige Methode für Stressabbau kann der Erwerb einer Katzentoilette – auch ohne zugehöriges Tier – mit Streu und Siebschaufel den Betroffenen Abhilfe verschaffen: Durch tägliches Kämmen der Streu beginnt nach wenigen Tagen der entspannende Eintritt des Kat-Zengarteneffekts.

Paulaner

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

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