Inhalt der Printausgabe

Mai 2006


In memoriam Walter Boehlich
Sie Schwein
(Seite 2 von 2)

     »Jedoch was nutzt das beste kritische Urteil, wenn es auf einen kleinen Kreis beschränkt bleibt? Autoren wollen nicht allein gelobt und möglichst nicht getadelt werden, sie wollen vor allem gedruckt werden.«

Walter Boehlich,
Oktober 1997
 
Hatte man das Kolumnen-Manuskript gelesen und verstanden, begann der schwierigste Teil der Boehlich-Betreuung, nämlich das Verfassen der sogenannten »Boehlich-Einleitung«. Drei Zeilen, in denen der Inhalt zusammengefaßt und die gewagtesten Thesen angerissen werden mußten. Nur wenige Redakteure waren in der Lage, sich dieser Aufgabe zu stellen. Es ist nicht überliefert, ob Walter Boehlich jemals einen anderen Artikel als seinen eigenen las, er beschwerte sich nur hin und wieder über die vielen ß, die man ihm reingepfuscht hatte. Manchmal kommentierte er das Titelblatt, aber insgesamt begriff er den Rest der TITANIC wohl als reine Verpackung für seine Gedanken.
In der Redaktion machten Legenden über Boehlichs Privatleben die Runde. Die Rede war von einem Hund, einem Husky, der möglicherweise Bücher in alphabeti scher Reihenfolge apportieren, Druckfehler riechen und kürzere Übersetzungen anfertigen konnte. Auch die angeblich häufig wechselnde Boehlich-Geliebte war eine stete Quelle ausufernder Spekulationen. Auf Feiern suchte er immer die Nähe weiblicher Gäste, um ihnen seine Rauchkünste zu demonstrieren und sie von kostspieligen Friseurbesuchen abzuhalten. Verbürgt war nur ein Zwillingsbruder, mit dem Walter Boehlich zweimal im Jahr Urlaub in der Holsteinischen Schweiz machte.
Er beherrschte die vierzig gängigsten Sprachen der Welt, übersetzte spielend aus dem Spanischen, Französischen und Dänischen. Es kursierten Gerüchte, nach denen Walter Boehlich die gesamte zeitgenössische dänische Literatur im Alleingang geschrieben und synchron ins Dänische übersetzt hatte. Und so unfaßlich sein Wissen, so unbestechlich und genau sein Gedächtnis: »Herr Boehlich, wir sitzen gerade an einer Glosse über das Mesozoikum, wie war das damals eigentlich?«
Obwohl Walter Boehlich das Kolumnieren schon im Januar 2001 aus gesundheitlichen Gründen einstellen mußte, versucht man in der Titanic bis heute, die entsprechenden -Seiten in seinem Sinne zu füllen. Die Frage lautet jeden Monat aufs neue: »Wer schreibt den Boehlich?« Thomas Gsella, der aktuelle Chefredakteur des Blattes, der noch als Redakteur die heiligen Manuskripte aus dem Umschlag holen durfte, schreckt des öfteren mitten in der Nacht hoch und schreit schweißgebadet: »Boehlich hat noch keinThema!«
Sollte Walter Boehlich jetzt dort sein, wo man sich Verstorbene gern vorstellt, wird der Himmelsbote wohl zum Ärger des Allmächtigen mit der Schlagzeile aufmachen: »Boehlich widerlegt Gott«. Zum Ausgleich darf man aber damit rechnen, daß er die Zehn Gebote lektoriert und eine historischkritische Ausgabe der Bibel auf den Weg bringt. Und sobald ihn ein Erzengel an den Abgabetermin erinnert, wird der Himmel durch ein lautstarkes »Sie Schwein!« erschüttert.
Hans Zippert


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg