Inhalt der Printausgabe

Juni 2005


Guten Abend, Essen!
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Weil das schamhaft nebennominierte Görlitz viel zu klein ist und im Osten liegt, wird der deutsche Vorschlag zum Wettbewerb »Kulturhauptstadt Europas 2010« selbstverständlich Essen heißen. Für TITANIC portraitiert Thomas Gsella, seit 1958 stolzer Essener, von Herzen gern die »Rose an der Ruhr«.Guten Abend, Essen!
Sie ist schön, sie hat Niveau, einen großen Glanz aus Innen, dreivier bezaubernde Stellen und vor allem einen prächtig restaurierten »Bahnhof«: Pamela Anderson, Beachmimin aus Bushland. Doch würde sie einmal versehentlich durch Essen flattern mit ihren seidenfeinen Kleidern, ihrem engelblonden Haar, sie würde kaum auffallen unter all den stinkend brikettschwarzen Mietskasernen voller todfroher Gesichter, da Insignien erfüllten Lebens sich tummeln wie Juwelen in den Mülldeponien Bogotás. Denn nichts ist zufällig, ist planlos oder gar beliebig in dieser »Perle des Kohlenpotts« (Nietzsche), die sich nun aufmacht, mit vollem Recht und endlich aufmacht, das Land Dürers und Bohrers und Bebels europaweit glänzen zu machen in einem Bereich oder neudeutsch: Lebensweltsektor, für den sie steht und singulär einsteht seit anfangs: Kultur.
Nicht freilich eine der Herrschenden. Seit Marx, seit Dutschke zumal hat das Wort sich vom Odem des Falschen befreit. Bis dahin ward Geist und Genius der Schinder, ward ihre Kunst mit jener ineinsgesetzt, galt der Hexameter folternden Landadels mehr als das Lied polternder Bauern, glänzten Seide und Benimm französelnder Baroneß heller als das Leinen und Rülpsen westfälischer Stallknechte. Doch Weber zunächst, und nach ihm dann wütender Gremliza, bestimmten Kultur als differenziertes Gesamt nationalen und regionalen bis hinunter zu lokalen »Ways of Life« (Elvis Presley). Als fälligen Kniefall vor Essen und seinen Bewohnern an und für sich ist die Entscheidung der Jury (Adolf Muschg u.a.) mithin zu begreifen wie zu begrüßen: Hier wurde eine Stadt in Vertretung der Region ausgezeichnet, deren Bestes nicht die Viertel und Straßen und Häuser, sondern, wie bereits der frühe Böll bedauerte, »die Menschen sind«.
Der Essener Vorstand der »Anonymen Penner e.V.«:
Arndt, Katinka und Rainer
Sowie die Namen. Ins Gesagte fügt sich, daß Europas kommender Stern eben nicht »Dichten« oder »Librettieren« heißt, nicht »Komponieren« oder »Aquarellieren«, sondern buchstäblich wie eine der drei conditiones humanae sine qua non: Atmen, Trinken, Essen. Solcher Mut ist in Europa einzigartig. Eine italienische Stadt Mangiare existiert nicht; Frankreich hat kein Viertel namens Manger-Devenir, der österreichische Ski-Ort Trinken-Sein ist nicht bekannt; aber: Essen-Werden! Und Essen-Haarzopf, hihi; nur das ungleich einleuchtendere Essen-Bratwurst (noch) nicht – doch apropos Brecht: »Und weil der Mensch ein Mensch ist / drum braucht er was zu essen bitte sehr« – und zu essen weiß nun grad der Essener! »Was Stauder im Trinken, ist Pommes rotweiß mit Bratwurst in Essen« fixierte, mit dem ihm eigenen Wortwitz, schon vor zwei Millennien der Reiserömer Seneca das Dreigestirn lokaler Lukulli und Leckerschmecker, deren Seinsweise schlechthin. Der beliebte Einwand, hier fehle der 600 Jahre währende Kohlebergbau, überführt seinen Erheber historischer Unkenntnis: Allein zwischen 1400 und 1986 lebten die Einwohner von und in den beliebten Gruben und Schächten; da aber war Seneca schon tot.
Kleines Stilleben mit Professor und Universität (hinten)
Kulturhauptstadt Europas: Zum Glück ist da immer auch Architektur von Belang, und hier vermag denn Essen wahrhaft aufzutrumpfen. Sei es das wehmütig stimmende Flair eines mittelalterlichen Stadtkerns, die Giebel der Renaissance, die lüsterne Verspielt-heit des Barock und strenge Imposanz der Gotik; seien es die Biedermeier- und Gründerzeitfassaden, deren Ornamente die Verbrechen feiern, die sie zu kaschieren suchten: wohl keine Stadt ist in Europa, welche die Epochen kontinentaler Kultur gleichvehement ignoriert, ja totschweigt. Nicht Prunktürme je temporärer Gewinnler, sondern das grundehrliche Scheiß- als flächendeckendes Wohnhaus gleichsam ewiger Loser prägt und, in wünschenswert prekärer Dialektik, beherrscht und erniedrigt und demütigt das Stadtbild und scheißt es zu mit jener Radikalität, von der Albert Speer träumte. Wie trunken vom Stolz, weltweit Einmaliges geschaffen zu haben, reiht sich Eile schnalzend an Geldmangel, Versuch an Improvisation, Zumutung an Ekles, Mahnmal an Mahnmal; und wenn Moderne für nichts so steht wie für den trauernden Verlust von Schmuck und Tand und Tünche, ist Essen in der Tat fleisch-, hackfleischgewordene Moderne par excellence, Sohn bleichester Mutter, Christus der Unerlösten.


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Lieber Jörg Metes (5.1.1959–16.6.2024),

Lieber Jörg Metes (5.1.1959–16.6.2024),

Du warst der jüngste TITANIC-Chefredakteur aller Zeiten. Du warst der Einzige, der jemals eine klare Vorstellung davon hatte, wie das ideale Heft aussehen musste, und hast immer sehr darunter gelitten, dass sich Deine Utopie nur unzureichend umsetzen ließ. Aus Mangel an Zeit und an Mitarbeiter/innen, die bereit waren, sich Nächte um die Ohren zu schlagen, nur um die perfekte Titelunterzeile oder das richtige Satzzeichen am Ende des Beitrags auf Seite 34 zu finden.

Legendär der Beginn Deiner satirischen Tätigkeit, als Du Dich keineswegs über einen Abdruck Deiner Einsendung freutest, sondern Robert Gernhardt und Bernd Eilert dafür beschimpftest, dass sie minimale Änderungen an Deinem Text vorgenommen hatten. Das wurde als Bewerbungsschreiben zur Kenntnis genommen, und Du warst eingestellt. Unter Deiner Regentschaft begann die Blütezeit des Fotoromans, Manfred Deix, Walter Moers und Michael Sowa wurden ins Blatt gehievt, und manch einer erinnert sich noch mit Tränen in den Augen daran, wie er mal mit Dir eine Rudi-Carrell-Puppe vor dem iranischen Konsulat verbrannt hat.

Nach TITANIC hast Du viele, die ihr Glück weder fassen konnten noch verdient hatten, mit Spitzenwitzen versorgt und dem ersten deutschen Late-Night-Gastgeber Thomas Gottschalk humortechnisch auf die Sprünge geholfen. Und dass River Café, eine deutsche Talkshow, die live aus New York kam, nur drei Folgen erlebte, lag bestimmt nicht an Deinen Texten. Auf Spiegel online hieltest Du als ratloser Auslandskorrespondent E. Bewarzer Dein Kinn in die Kamera, und gemeinsam mit Tex Rubinowitz hast Du das Genre des Listenbuches vielleicht sogar erfunden, auf jeden Fall aber end- und mustergültig definiert, und zwar unter dem Titel: »Die sexuellen Phantasien der Kohlmeisen«. Und diese eine Geschichte, wo ein Psychiater in ein Möbelhaus geht, um eine neue Couch zu kaufen, und der Verkäufer probeliegen muss, wo stand die noch mal? Ach, in der TITANIC? Sollte eigentlich in jedem Lesebuch zu finden sein!

Uns ist natürlich bewusst, dass Du auch diesen Brief, wie so viele andere, lieber selber geschrieben und redigiert hättest – aber umständehalber mussten wir das diesmal leider selbst übernehmen.

In Liebe, Deine Titanic

 Mahlzeit, Erling Haaland!

Mahlzeit, Erling Haaland!

Zur Fußballeuropameisterschaft der Herren machte erneut die Schlagzeile die Runde, dass Sie Ihren sportlichen Erfolg Ihrer Ernährung verdankten, die vor allem aus Kuhherzen und -lebern und einem »Getränk aus Milch, Grünkohl und Spinat« besteht.

»Würg!« mögen die meisten denken, wenn sie das hören. Doch kann ein Fußballer von Weltrang wie Sie sich gewiss einen persönlichen Spitzenkoch leisten, der die nötige Variation in den Speiseplan bringt: morgens Porridge aus Baby-Kuhherzen in Grünkohl-Spinat-Milch, mittags Burger aus einem Kuhleber-Patty und zwei Kuhherzenhälften und Spinat-Grünkohl-Eiscreme zum Nachtisch, abends Eintopf aus Kuhherzen, Kuhleber, Spi… na ja, Sie wissen schon!

Bon appétit wünscht Titanic

 Du wiederum, »Spiegel«,

bleibst in der NBA, der Basketball-Profiliga der Männer in den USA, am Ball und berichtest über die Vertragsverlängerung des Superstars LeBron James. »Neuer Lakers-Vertrag – LeBron James verzichtet offenbar auf Spitzengehalt«, vermeldest Du aufgeregt.

Entsetzt, Spiegel, müssen wir feststellen, dass unsere Vorstellung von einem guten Einkommen offenbar um einiges weiter von der Deiner Redakteur/innen entfernt ist als bislang gedacht. Andere Angebote hin oder her: 93 Millionen Euro für zwei Jahre Bällewerfen hätten wir jetzt schon unter »Spitzengehalt« eingeordnet. Reichtum ist wohl tatsächlich eine Frage der Perspektive.

Arm, aber sexy: Titanic

 Grüß Gott, Markus Söder!

Weil der bayerische AfD-Chef Sie wiederholt »Södolf« genannt hat und Sie ihn daraufhin anzeigten, muss dieser Ihnen nun 12 000 Euro wegen Beleidigung zahlen. Genau genommen muss er den Betrag an den Freistaat Bayern überweisen, was aber wiederum Ihnen zugutekommt. Ebenjener zahlt Ihnen ja die Honorare für freie Fotograf/innen, von denen Sie sich bei öffentlichen Anlässen gern begleiten und ablichten lassen. Im Jahr 2022 sollen sich die Kosten auf stolze 180 000 Euro belaufen haben.

Vorschlag: Wenn es Ihnen gelingt, die Prasserei für Ihr Image komplett durch Klagen gegen AfD-Mitglieder querzufinanzieren, stoßen wir uns weniger an Ihrem lockeren Umgang mit öffentlichen Geldern.

Drückt vorauseilend schon mal beide Augen zu: Titanic

 Nachdem wir, »Spiegel«,

Deine Überschrift »Mann steckt sich bei Milchkühen mit Vogelgrippe an« gelesen hatten, müssen wir selbst kurz in ein Fieberdelirium verfallen sein. Auf einmal waberte da Schlagzeile nach Schlagzeile vor unseren Augen vorbei: »Affe steckt sich bei Vögeln mit Rinderwahnsinn an«, »Vogel steckt sich bei Mann mit Affenpocken an«, »Rind steckt sich bei Hund mit Katzenschnupfen an«, »Katze steckt sich bei Krebs mit Schweinepest an« und »Wasser steckt sich bei Feuer mit Windpocken an«.

Stecken sich auf den Schreck erst mal eine an:

Deine Tierfreund/innen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Lifehack von unbekannt

Ein Mann, der mir im Zug gegenüber saß, griff in seine Tasche und holte einen Apfel heraus. Zu meinem Entsetzen zerriss er ihn mit bloßen Händen sauber in zwei Hälften und aß anschließend beide Hälften auf. Ich war schockiert ob dieser martialischen wie überflüssigen Handlung. Meinen empörten Blick missdeutete der Mann als Interesse und begann, mir die Technik des Apfelzerreißens zu erklären. Ich tat desinteressiert, folgte zu Hause aber seiner Anleitung und zerriss meinen ersten Apfel! Seitdem zerreiße ich fast alles: Kohlrabi, Kokosnüsse, anderer Leute Bluetoothboxen im Park, lästige Straßentauben, schwer zu öffnende Schmuckschatullen. Vielen Dank an den Mann im Zug, dafür, dass er mein Leben von Grund auf verbessert hat.

Clemens Kaltenbrunn

 Verabschiedungsrituale

Wie sich verabschieden in größerer Runde, ohne dass es ewig dauert? Ich halte es so: Anstatt einen unhöflichen »Polnischen« zu machen, klopfe ich auf den Tisch und sage: »Ich klopf mal, ne?«. Weil mir das dann doch etwas unwürdig erscheint, klopfe ich im Anschluss noch mal bei jeder Person einzeln. Dann umarme ich alle noch mal, zumindest die, die ich gut kenne. Den Rest küsse ich vor lauter Verunsicherung auf den Mund, manchmal auch mit Zunge. Nach gut zwanzig Minuten ist der Spuk dann endlich vorbei und ich verpasse meine Bahn.

Leo Riegel

 Beim Aufräumen in der Küche

Zu mir selbst: Nicht nur Roger Willemsen fehlt. Auch der Korkenzieher.

Uwe Becker

 Feuchte Träume

Träumen norddeutsche Comedians eigentlich davon, es irgendwann mal auf die ganz große Buhne zu schaffen?

Karl Franz

 Claims texten, die im Kopf bleiben

Ist »Preissturz bei Treppenliften« wirklich eine gute Catchphrase?

Miriam Wurster

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster