Inhalt der Printausgabe

Juni 2005


Guten Abend, Essen!
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»Ey, hömma hömma, komma bei mich bei! Kannsse getz für mich ma ebend zum Karbäusken fitschen?« Auch im Idiom, mit dem mietskasernierte Ex-Kohleschrabber ihre prostituierte Tochter zum Kiosk peitschen, Lungenbrötchen und Kiste Pilsbier nachzuordern, mögen europäische Kultursprachen schwer auszumachen sein, und doch: Seit dem Beginn industrieller Kohleförderung ab 1800 vermengte sich das vorgrammatische Extremplatt südpolnischer Armutsflüchtlinge so kongenial mit den paläontologischen Lautfetzen gelegter Ruhrbauern, daß es bis heute und hinein in oberste Verwaltung eine Freude ist; wer den akuten Oberbürgermeister reden hört (Reiniger, CDU), plädiert mit annähernd gleichsprachigen SPDlern blitzschnell für die Ganztagsschule.
Seit je schmückt sich in Essen Prunk mit Großzügigkeit

Wobei sich Essener Kultur bei Gott nicht im viril Plebejischen erschöpft! Da ist das angesehene Folkwagen-Museum und die sündteure Krupp-»Villa Hügel« am Baldeneysee, da ist das Aalto-Opernhaus und, mitten in der City, das kleine Essener Münster, dessen erhaltene Krypta Kirchenschätze des 10. und 11. Jahrhunderts beherbergt, beschattet und umringt von der Aristokratie des profaneren Savoir vivre – schon heute gilt ja dieser Ort als weltweit einziger Kulturtopkandidat mit Quelle, Görtz, C&A, Ansons, Wormland, Kaufhof, Karstadt, Peek & Cloppenburg, Hertie, bis 1994 Wertheim, dreimal H&M und 719 Nordseefilialen auf einem achtel Morgen. Hier gibt es wahrhaft alles, was das Herz begehrt: lange Hosen, kurze Hosen, Hemden, Pullover, Mäntel, Hüte, Schuhe, Strümpfe, Unterhosen, Regenhäute und und und – hybrid ist also nicht, daß der baldige Titelträger sich exklusiv und kraft eigener Großwerbung als »Die Einkaufsstadt«, als weltbesten Warenhaufen sieht und tituliert.
Momente einer Kulturhauptstadt: Vier typische Sternerestaurants und der weltweit erste und letzte Drive-In-Plus
Durch diesen tingelt, tändelt und flaniert denn bis zum Schein des Mondes, »spazerriert bis inne Puppen« nun der Essener und – kauft sich neue Sachen? Haha! Meilenweit getäuscht! Es riecht nach Marcusescher Konsumverweigerung oder einem unbewußten local virus, dankt sich aber, siehe Infotainmentkasten, präbabylonischer Prägung – amerikanische Essen-Wissenschaftler haben jedenfalls herausgefunden, daß komplett alle Einwohner vom Zwang beseelt sind, »eima am Tach inne Stadt« zu müssen, und dies auch durchaus tun; aber echte Sachen und Produkte kaufense – dann überhaupts nich’! Sondern zu hundert Prozent, mitgerollte Kinder/Greise eingeschlossen, nix als Bratwurst mit logisch Pommes rotweiß! Die sie dann, Ironie der Totalverweigerung, zwar äußerst schnell und meist leicht spuckend-spotzend auffressen; aber rührt ihr Name wirklich von daher? Ja und nein. Die Essener sind ohne Zweifel spitzen Pommesesser, mithin Pommesessener, aber – wo bleibt da die vom Essener Stadtgesetz seit anno 114 gleichfalls vorgesehene Bratwurst? Die übrigens keine Wurst und keinesfalls gebraten ist; sondern eine auf grillkopierenden Betrugskonstrukten irgendwie erhitzte rosa Kacke?
Häßlich ist was anderes: die Ampelanlage vorm Hauptbahnhof
Doch zurück zur Hochkultur: Unvergessen Hitlers triumphal umjubelter Auftritt auf dem heutigen Kennedyplatz, dem Zentrum einer längst erdbebenhaft verfallenden City, da auf dem Humus verfaulten Qualitätsfachhandels die »1 Euro!« und »1 Euro-Inferno!«-Läden sprießen wie die Pommesbratwurstbuden; genauso unvergessen auch der regelmäßige Triumph des Autors, wenn er nach umjubelten Lesereisen aus dem Zug hinab in den Essener Bahnhof steigt und seine schweren Koffer lustig flötend treppunter schleppt, weil die mechanischen Rolltreppen, sieben an der Zahl, wieder einmal, und man weiß nicht, wie und wann genau sie’s machen, die Treppen werden schließlich täglich runderneuert – weil also die sieben Rolltreppen von den ca. 500000 Essener Outlaws und Hartz-IV-Ex-Ich-AGlern wieder einmal rotzblau in die Havarie geprügelt und werweiß gepißt sind – dochdoch, dies mein Essen, dieser stille mächtige Protest gegen glückliche Seelen, fröhliche Häuser und intakte Rolltreppen – es möge es werden! Helau!

Thomas Gsella



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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/innen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg