Inhalt der Printausgabe

Juli 2005


RÜCKKEHR DES HÄSSLICHEN
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Aussehen als Programm:
Gedanken zum Schattenkabinett der Angela Merkel
von Thomas Gsella
Ist es Häßlichkeit der Macht…
Daß profitables Einverstandensein mit einer schlechten, rundum mörderischen Welt des Einverstandenen Antlitz nicht zum schönsten formt, ist ein Gemeinplatz aus Erfahrung. Gleich ob Malerei oder Reisenotiz, ob Goya oder Seneca, Soldatenfeldpost oder Bauernlied: In aller menschlichen, d.h. mitleidfähigen und nach leidbefreitem Leben schreienden Überlieferung erscheinen die Gesichter der Mächtigen samt privilegierter Mittäter als kalt, roh, fratzenhaft, tendenziell als Teufelsabbild, leere funktionale Masken jener viehischen Gewalt, der sich eine zwanghaft im Naturzustand belassene Gesellschaft dankt, und wo Jahrtausende sich also schrecklich gleichen, gleichen sich gleichschrecklich jene Chefs und Führer, deren urgemeine, gräßlich unerlöste Mienen mehr als alle andern die gemeine Angst spiegeln, ebenfalls zum Opfer einer Welt zu werden, die sie von Grund auf um so mehr beherrscht, je mehr sie sich als Grund und Herrscher mißverstehen. Adolf Hitler war ja nicht nur ungeheurer Wurm und Vollidiot, sondern sah auch haargenau so aus, und hätten etwa die Päpste der Inquisition und Margret Thatcher, Fürst Metternich, Donald Rumsfeld und Elisabeth II. die Gelegenheit zu einem außerzeitlichen Stelldichein und Gruppenbums erhalten: man wäre kaum sehr gern dabeigewesen, wie diese blassen weißblasierten Arschgesichter und massenmörderischen Tüncheferkel ihre toten Körper ineinandermergeln.
…oder Macht der Häßlichkeit?
Sogar von den Ausnahmen zu schweigen: Kleopatra soll reizend gewesen sein, Alexander der Große ein gelockter archetypisch geiler Reiter, und als gleichsam faustischer Heinz Erhardt war Georgie Kiesinger gewiß der Marilyn Manson frigider Naziwitwen, aber nein und nochmals nein: In strafverschärfender Ergänzung jenes ersten Weltgesetzes, nach dem von allen Morgenvarianten stets die schrecklichste obsiegt, strahlen respektive strunzen stets die schrecklichsten Visagen von den Thronen solcherart Geschichte; und ungleich quälender in neuerer Zeit, da Photographie, Buntfernsehen und zuletzt hybride Suchautomaten uns die Schweinerei tagtäglich und aus einer Nähe zeigen, gegen welche ältere Legendenbildung alt aussieht. Die grabkalte Schnauze eines Cäsar war dem Blick der Circusrömer kalkuliert entzogen, nun genügen die Befehle "Roland Koch" und "Bilder", schon wird man von der imbezilen Wahrheit aus den Schuhen gegoogelt. Daß wir als schön nur Gesichter empfinden, deren Züge, deren Augen Zeugnis geben von Signalen eines Hirns, das zwischen Gut und Böse scheiden kann und will, ist kein Dünkel, sondern zu Geschmack geronnener Instinkt aus affenmenschlicher Epoche: Nähert sich die Schlange, wechsle den Baum! "Abscheulicher als das Wort geistiger Mensch ist, daß es Menschen gibt, die es nicht sind", beklagte so oder ähnlich Adorno und meinte damit eben nicht die DVU-ler oder jungen Liberalen, nicht die offenbaren Blödmänner und Nichtsnutze, sondern vielmehr die Schlimmsten, weil zu aller Zeit Gefährlichsten: deren Geist sie womöglich zu rumpfhafter Humanitas befähigte und die ihn aber einsetzen einzig, um sich in jenes dunkle Unten abzuseilen, das derlei Penner seit jeher für Oben halten: die Gossen der Täter, die Unterschlüpfe der Entscheider, die Elendsviertel der Macht. Auf daß ihre vollends liederlichen Ärsche weich zu sitzen kommen.
Gleichfalls Idioten sind, welche Häßlichkeit der Macht mit Geistes Schönheit utopisch kompatibel wähnen, denn dies Spiel war aus, bevor es auf den Flohmarkt kam. Nicht Rosa Luxemburg, Erich Mühsam, Kurt Tucholsky und Walter Benjamin übernahmen 1933 von Helene Weigel das Zepter, sondern andere von Hindenburg, und dabei blieb's bis heute. Die Willy-Brandt-Skulptur in der Berliner SPD-Zentrale ist viel mehr als eine Huldigung die steingewordene Wahrheit über jeden, der unbedrängt die Ufer wechselt; undenkbar, daß je ein hergelaufener Stoiber-Gips dermaßen scheiße werde. Denn dort wird nichts zu formen, ungewollt zu karikieren, zu verfehlen sein. Noch höfischster Kunstwille beißt auf Granit, wo das Grinsen siegessicherer Intrige nicht ungelenker Habitus, sondern Kern aller Schalen ist. Die vermutlich 240 000 € monatlich, die von tschechischen Nazi-Opfern verhauene Sudeten wohl schon bald erhalten, auf daß sie ihre unschuldsweißlackierten Trauerhäubchen bei Armani bügeln lassen können, sollen, wie man hört, behinderten Nachkommen russischer Zwangsarbeiter aus dem Rückenmark gesaugt werden - egal ob der Bayer nun als Außen- oder Supertopwirtschaftsfinanzminister endet und ins obligate Gras beißt.



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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hi, Daniel Bayen!

Sie sind sehr jung und waren mit Ihrer Firma für Vintage-Klamotten namens Strike vorübergehend sehr erfolgreich. Die ist jetzt pleite, machte aber zeitweise 2,9 Millionen Euro Umsatz. Der Bedarf war so groß, dass Correctiv-Recherchen zufolge sogar massenhaft Neuware zwischen die Secondhand-Bekleidung gemischt wurde. Auch Sie räumten demnach ein, gefälschte Ware geordert zu haben. Allerdings, so behaupten Sie, nur, um Ihren »Mitarbeitern zu zeigen, wie man gefälschte Ware identifiziert und aussortiert«.

Aber Bayen, Ihre Expertise besteht doch darin, neue Sachen auf alt zu trimmen. Also versuchen Sie bitte nicht, uns solche uralten Tricks zu verkaufen!

Recycelt Witze immer nach allen Regeln der Kunst: Titanic

 Wurde aber auch Zeit, Niedersächsische Wach- und Schließgesellschaft!

Mit Freude haben wir die Aufschrift »Mobile Streife« auf einem Deiner Fahrzeuge gesehen und begrüßen sehr, dass endlich mal ein Sicherheitsunternehmen so was anbietet! Deine Mitarbeiter/innen sind also mobil. Sie sind unterwegs, auf Achse, auf – um es einmal ganz deutlich zu sagen – Streife, während alle anderen Streifen faul hinterm Büroschreibtisch oder gar im Homeoffice sitzen.

An wen sollten wir uns bisher wenden, wenn wir beispielsweise einen Einbruch beobachtet haben? Streifenpolizist/innen? Hocken immer nur auf der Wache rum. Streifenhörnchen? Nicht zuständig und außerdem eher in Nordamerika heimisch. Ein Glück also, dass Du jetzt endlich da bist!

Freuen sich schon auf weitere Services wie »Nähende Schneiderei«, »Reparierende Werkstatt« oder »Schleimige Werbeagentur«:

Deine besserwisserischen Streifbandzeitungscracks von Titanic

 Wie kommt’s, »Krautreporter«?

In einem Artikel zum Thema »Konkurrenz im Job« stellst Du die These auf: »Konkurrenz ist nicht so verpönt wie ihr Ruf.« Aber warum? Was hat der Ruf der Konkurrenz denn bitte verbrochen? Womit hat er seinem Renommee so geschadet, dass er jetzt sogar ein schlechteres Image hat als die Konkurrenz selbst? Und weshalb verteidigst Du in Deinem Artikel dann nur die Konkurrenz und nicht ihren Ruf, der es doch viel nötiger hätte?

Ruft Dir fragend zu:

Deine genau im gleichen Ausmaß wie ihr Ruf verpönte Titanic

 Hände hoch, Rheinmetall-Chef Armin Papperger!

Laut einem CNN-Bericht lagen deutschen und US-amerikanischen Geheimdiensten Hinweise zu russischen Plänen für einen Angriff auf Sie vor. So etwas nennt man dann wohl »jemanden mit seinen eigenen Waffen schlagen«!

Mörderpointe von Titanic

 Lieber Jörg Metes (5.1.1959–16.6.2024),

Lieber Jörg Metes (5.1.1959–16.6.2024),

Du warst der jüngste TITANIC-Chefredakteur aller Zeiten. Du warst der Einzige, der jemals eine klare Vorstellung davon hatte, wie das ideale Heft aussehen musste, und hast immer sehr darunter gelitten, dass sich Deine Utopie nur unzureichend umsetzen ließ. Aus Mangel an Zeit und an Mitarbeiter/innen, die bereit waren, sich Nächte um die Ohren zu schlagen, nur um die perfekte Titelunterzeile oder das richtige Satzzeichen am Ende des Beitrags auf Seite 34 zu finden.

Legendär der Beginn Deiner satirischen Tätigkeit, als Du Dich keineswegs über einen Abdruck Deiner Einsendung freutest, sondern Robert Gernhardt und Bernd Eilert dafür beschimpftest, dass sie minimale Änderungen an Deinem Text vorgenommen hatten. Das wurde als Bewerbungsschreiben zur Kenntnis genommen, und Du warst eingestellt. Unter Deiner Regentschaft begann die Blütezeit des Fotoromans, Manfred Deix, Walter Moers und Michael Sowa wurden ins Blatt gehievt, und manch einer erinnert sich noch mit Tränen in den Augen daran, wie er mal mit Dir eine Rudi-Carrell-Puppe vor dem iranischen Konsulat verbrannt hat.

Nach TITANIC hast Du viele, die ihr Glück weder fassen konnten noch verdient hatten, mit Spitzenwitzen versorgt und dem ersten deutschen Late-Night-Gastgeber Thomas Gottschalk humortechnisch auf die Sprünge geholfen. Und dass River Café, eine deutsche Talkshow, die live aus New York kam, nur drei Folgen erlebte, lag bestimmt nicht an Deinen Texten. Auf Spiegel online hieltest Du als ratloser Auslandskorrespondent E. Bewarzer Dein Kinn in die Kamera, und gemeinsam mit Tex Rubinowitz hast Du das Genre des Listenbuches vielleicht sogar erfunden, auf jeden Fall aber end- und mustergültig definiert, und zwar unter dem Titel: »Die sexuellen Phantasien der Kohlmeisen«. Und diese eine Geschichte, wo ein Psychiater in ein Möbelhaus geht, um eine neue Couch zu kaufen, und der Verkäufer probeliegen muss, wo stand die noch mal? Ach, in der TITANIC? Sollte eigentlich in jedem Lesebuch zu finden sein!

Uns ist natürlich bewusst, dass Du auch diesen Brief, wie so viele andere, lieber selber geschrieben und redigiert hättest – aber umständehalber mussten wir das diesmal leider selbst übernehmen.

In Liebe, Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Der kästnerlesende Bläser

Es gibt nichts Gutes
außer: Ich tut’ es.

Frank Jakubzik

 Ein Lächeln

Angesichts der freundlichen Begrüßung meinerseits und des sich daraus ergebenden netten Plausches mit der Nachbarin stellte diese mir die Frage, welches der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen sei. Sie beantwortete glücklicherweise ihre Frage gleich darauf selbst, denn meine gottlob nicht geäußerte vage Vermutung (Geschlechtsverkehr?) erwies sich als ebenso falsch wie vulgär.

Tom Breitenfeldt

 Liebesgedicht

Du bist das Ästchen,
ich bin der Stamm.
Du bist der Golo,
ich Thomas Mann.
Du bist Borkum,
ich bin Hawaii.
Du bist die Wolke,
ich bin gleich drei.
Du bist das Würmchen,
ich bin das Watt.
Du bist die Klinke,
ich bin die Stadt.
Du bist das Blättchen,
ich jetzt der Ast.
Sei still und freu dich,
dass du mich hast.

Ella Carina Werner

 Dialog auf Augenhöhe

Zu meinen Aufgaben als Marketingexperte in einem modernen Dienstleistungsunternehmen gehört es unter anderem, unzufriedene Kunden zu beschwichtigen. Vor kurzem beschwerte sich einer von ihnen darüber, dass wir in unseren Texten immer dieselben Bausteine verwenden. Die Mail ließ mich ganz irritiert zurück. Ein Glück, dass wir für genau solche Anfragen gleich fertige Antworten haben.

Andreas Maier

 Reifeprozess

Musste feststellen, dass ich zum einen langsam vergesslich werde und mir zum anderen Gedanken über die Endlichkeit allen Lebens mache. Vor meiner Abreise in den Urlaub vergaß ich zum Beispiel, dass noch Bananen in meiner Obstschale liegen, und dann dachte ich zwei Wochen darüber nach, wie lange es wohl dauert, bis die Nachbarn wegen des Geruchs und der Fliegen aus meiner Wohnung die Kripo alarmieren.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster