Inhalt der Printausgabe

August 2004


Was ist heute noch links?
Eine wiederum unwiderlegliche Klärung von Thomas Gsella
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Alle Geschichte ist die der Herrschenden, so korrumpiert sie die Bedrückten. Nach dem Mauerverlust in '89 nahmen etliche Redakteur/innen dieser Zeitschrift an der landesweiten und Frankfurter Demonstration "Nie wieder Deutschland!" teil; fünfzehn Jahre später gestand mir, gelegentlich einer gemeinsamen Lesung, ein unterdessen nurmehr halbbedrückter Exredaktor und freiassoziierter Erhard Häntschel*, er sei heilfroh, in Deutschland zu leben, leben zu dürfen; und ich? Ich stimmte augenblicks zu!
War es Unachtsamkeit? Resignation? Freude übers wieder mal grotesk baumhohe Lesungshonorar? Unbestreitbar liegen Autoren, jene "verspäteten Kleinproduzenten privater Ideologien" (Bourdieu), weicher zwischen Kiel und Passau als in Nagelbetten wie Angola oder Grönland mit ihrer chochaften Mixtur aus zugespitzten Temperaturen und Mentalitäten; und unbestreitbar hat westliche Auflärung noch als kulturelle Schönrede auf Imperialismus mehr Knuff und Pfiff und Pep als alle Iglu- und Trommlermythologien zusammen. Trotzdem bleibt Heimatliebe intellektuelles skándalon, Bankrotterklärung, untrügliches Indiz für den Zerfall des Individuums, das einmal "Ho-Chi-Minh" skandierte.
Mit vollem Recht skandierte. "Es kommt darauf an, die Welt zu verändern" (Marx), denn "daß es so weitergeht, ist die Katastrophe" (Benjamin): vor dieser Matrix oder besser Folie erhalten Vorschläge wie Schopenhauers "Alle Macht den Räten" oder Kästners grundsaloppes "Haut die Bullen platt wie Stullen" ihre Evidenz blitzhaft zurück. Denn wie Afghanistan, wie der Sudan ist Deutschland unbewohnbar. Nicht für Häntschel oder Esser, Schröder oder Ackermann, nicht für die untoten Borderline-Youngster, die ihre Psychopathologien an der Frankfurter Börse zelebrieren und nicht ahnen, daß ihre Charaktermasken und weißgestärkten Hemden tausend Jahre alte Leichentücher sind und ihre Lederautos superscheiße, nein, nicht für diese. Sondern zwar auch mittlerweile für Frau Engelke, die nun angeblich eine "Tochterpause" vorschiebt, vor allem aber für die 20 Millionen arbeitslosen Männer, Ehefrauen, Kinder, Babys und Haustiere, die dank Hartz durchs Land getrieben werden von Hungerlohn zu Hungerlohn, von Hütte zu Hütte, von Qual zu Qual. Proletarier, hieß es, haben keine Heimat und nichts zu verlieren als ihre Ketten: eine Wahrheit, die außer Kraft gesetzt schien nur in den blendenden Jahren, da dem Oberhausener Kohlenschaber stündlich mehr zugesteckt ward als seinem karibischen Bananenpflücker pro Jahr. Nun aber, da die Kapitalkonzentration die Marxsche Apokalypse bestätigt, sinkt mit dem weltweiten Mehrwert der weltweite Lohn, und die Cliquen da oben stehlen im Wissen, daß es das letzte ist, das letzte um so feister zusammen, während sie den Klassenunterschied zwischen Herne und Honduras einziehen.
So sieht's mal aus. "Wer jetzt kein Haus hat, der baut keines mehr" (Merkel), denn der Terror kapitalistischer Ökonomie tritt zutage in jener alten Nacktheit, die die Vorgarten- und sonstwie pädagogischen Utopien der satten neuen Linken/Grünen endgültig als Kitsch und Sonntagslaune desavouiert. Kinderläden? Ha! Gripstheater? Ho! Sich wie einst als Kind mal wieder auf den Bordstein setzen, um der Verdinglichung & Entfremdung des "eigenen Leibes" (Rudolf zur Lippe) zu widerstehen? Hö! Fahrradwege? Startbahn West? Hihi! Atom? Solardächer? Mountainbikes mit Gabelfederung, Waldorfschulen, iPods, die neuen MP3-Maschinen? Arschlecken mit Currysoße! Und ciao, Nebenwidersprüche! Eure Schuldigkeit habt ihr getan, eröffnet ist der Kampf auf Leben oder Tod, auf "Kommunismus oder Barbarei" (Marx) bzw. "patria o muerte" (Castro). Nehmen wir ihn an! Doch halt. Laut "Wolfgang Pohrt" (Adorno) ist die Vokabel "links" seit anfangs untendurch und war es drum ein Fehler der Protestler, in der prä- oder postrevolutionären französischen Nationalversammlung (wer kuckt genauer nach?) sich vom Redner aus gesehen links zu postieren. Zu positionieren. Und als eben Linke sich zu definieren, wo doch links seit je mit linkisch, link und krumm und falsch assoziiert sei, rechts indes mit recht und Recht, mit rechtens, rechtschaffen und richtig. Nun ja. Seit jenem gründelnd fulminanten Wortfeldbrainstorm, hört man, kellnert Wolfgang wieder; na, wer's sich leisten kann…


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/i nnen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Eine Frage, Miriam Meckel …

Im Spiegel-Interview sprechen Sie über mögliche Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt. Auf die Frage, ob die Leute in Zukunft noch ihr Leben lang im gleichen Beruf arbeiten werden, antworten Sie: »Das ist ja heute schon eher die Ausnahme. Ich zum Beispiel habe als Journalistin angefangen. Jetzt bin ich Professorin und Unternehmerin. Ich finde das toll, ich liebe die Abwechslung.« Ja, manchmal braucht es einfach einen beruflichen Tapetenwechsel, zum Beispiel vom Journalismus in den Fachbereich Professorin! Aber gibt es auch Berufe, die trotz KI Bestand haben werden? »Klempner zum Beispiel. Es gibt bislang keinen Roboter mit noch so ausgefeilter KI auf der Welt, der Klos reparieren kann.«

Das mag sein, Meckel. Aber was, wenn die Klempner/innen irgendwann keine Lust mehr auf den Handwerkeralltag haben und flugs eine Umschulung zum Professor machen? Wer repariert dann die Klos? Sie?

Bittet jetzt schon mal um einen Termin: Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
28.03.2024 Nürnberg, Tafelhalle Max Goldt
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt