Inhalt der Printausgabe

Dezember 2001


Vom Fachmann für Kenner
(Seite 10 von 14)

Der Anruf
Wie seltsam lautlos die Welt, dachte unwissentlich der Künstler des Wortes und lauschte nun gleichwohl bewußter, eine erste Tätigkeit an diesem Morgen, da kein Wind ging, nur ein feiner Nieselregen, der zu fallen sich kaum recht entscheiden konnte, so leicht war er, so hoffnungsvoll tanzend und doch zum Fallen bestimmt. Nach Stunden um Stunden, sieben Stunden oder zwei, es war gewiß am selben Tag, ein Sonntag mußte es sein, dachte er, daher wohl die milchgläserne Ruhe, der Anruf. "Kommter zum Kaffe?" Mutter. "Onkel Willi is ooch da!" Wer jener Onkel Willi sei, fragte, nach einer Phase der Sammlung, der Künstler und erschaute, wie auf einem Sims sich eine Taube niederließ und verharrte, bevor sie den Schnabel in rückwärtigen Federn vergrub. Parasitenbefall, dachte er und erwog gar, es flüsternd zu formulieren, ist schlimm, doch bin ich frei davon, ein Privileg der westlichen Ober- und Mittelschichten. "Na jetzt abber ehrlich!" Mutter. "Von dich der Patenonkel! Also, halb pfümpf! Und bringt eures Töchterken mit, kann Onkel Willi auch ma sehn!" Als der Tag versank, fuhr man im Van durch den Regen, erste Schneeflocken stoben ins Licht. Drei Straßen entfernt wohnte Mutter, unterwegs kam's zum Streit, einem notwendig kurzen; es hatte die Freundin, nach Ansicht des Künstlers, die Tochter erneut zu kühl angekleidet, ein immerwährendes disputens der beiden. Die schnarrende Hausklingel warf ihn zurück in die Kindheit, die Jugend, die Hölle von Testbild und Philipsrecorder. "Na hömma, hömma, wo bleibt ihr denn einklich?" Mutter. "Jetz abber fix reinspazzeriert inne Bude!" Es roch nach billigem Bienenstich. "Mensch, Onkel Willi, Tachchen!" Der Künstler erkannte ihn freudig. "Wie geht dich, Older? Höi, gout? Na denn ma tau, nöch, oller Pate, der de bis!"
Noch einmal las der Künstler den Text, dann vergrub er das Gesicht in den Händen. Nein, dachte er, noch war der Beginn seines Romans über die unglaublich bescheidenen Wurzeln eines Literaturnobelpreisträgers nicht gefunden, dann der Anruf: Mutter. "Nur der Vorsicht halber: Die Habermasens kommen morgen zum Brunch. Bitte platzt nicht wieder hinein. Du weißt, wie sehr Vater sich deiner schämt." Okay, dachte der Künstler, schon gut, schon gut! Der Tag war sowieso gelaufen.

Thomas Gsella


   1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14   


Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Wir wollten, »SZ«,

nur mal schnell Deine Frage »Gedenkbäume absägen. Hinweistafeln mit Hakenkreuzen beschmieren. Wer macht sowas?« beantworten: Nazis.

Für mehr investigative Recherchen wende Dich immer gerne an Titanic

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Du, »Hörzu Wissen«,

weißt, wie Werbung geht! Mit »Die Sucht zu töten« machtest Du so richtig Lust auf Deine aktuelle Ausgabe, um erläuternd nachzulegen: »Bestialisch, sadistisch, rätselhaft: Was Menschen zu mordenden Monstern macht – acht Täter und die Geschichten ihrer grausamen Verbrechen.«

Wer kann sich da der Faszination der »dunklen Welt der Serienkiller« noch entziehen? Aber am Ende, liebe Hörzu Wissen, ist in diesem Zusammenhang doch die Implikation Deines Slogans »Hörzu Wissen – das Magazin, das schlauer macht!« das Allergruseligste!

Da erschauert sogar

Die True-Crime-resistente Redaktion der Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

Gefühlte Champignons.

Lukas Haberland

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg