Inhalt der Printausgabe

Mother of five hundred million

Örssolla van der Leyén im Porträt

Wer an Macht denkt, denkt an Befehlsgewalt, Raffgier, Amtsmissbrauch und Vetternwirtschaft, seit einem Jahr aber auch an Ursula von der Leyen. Keine Frage, die – Achtung, lustiges Paradox – 1,61 m kleine Frau ist mittlerweile ganz oben angekommen. Seit 2019 wacht sie als Kommissionspräsidentin über Recht und Haushalt der EU. Erst sieben Kinder unter sich, dann 180 000 Soldaten, jetzt 500 000 000 Europäer – wo führt das noch hin?

Es war ein epochaler Moment im Juli 2019, als Europa seit Tagen kopflos schien, die »Frau mit dem stählernen Lächeln« (»Spiegel«) das Rednerpult des EU-Parlaments erklomm und ihre Bewerbungsrede hielt. Eine Rede voll klarsichtiger Argumente und verbindlicher Ziele. »We all need to help each other«, rief sie durch den Saal, ihre Hände hüpften dabei mit ihren Augenbrauen um die Wette. »Young people want to have a future«, mahnte sie an und platzierte zwischen zwei Satzperlen stets eine kleine dramatische Pause, ehe sie fortfuhr und die nächsten Schlüsselwörter so kunstvoll in die Länge zog (»more eeeequel union«) wie die Ohren ihrer sieben Kinder, die sie gleich drei Mal in ihre Rede einflocht. Dann wieder riss sie die Augen auf, als kullerten gleich zwei blassblaue Murmeln heraus: »Our challenge is keeping our planet healthy«, nur noch übertroffen von jener aufrüttelnden Sentenz: »It’s not people that serve the economy. It’s the economy that serves our people!« Donnernder Applaus. »Ich liebe Europa. Vive l’Europe. Long live Europe«, skandierte sie am Ende auf Deutsch, Belgisch und Englisch und elektrisierte ihre Bewunderer der PiS-Partei ebenso wie ihren Duzfreund Viktor Orbán, der ihre wichtigste Qualifikation für den ranghöchsten EU-Job pries: »Sie hat so viele Kinder!« Ihr eigentlicher Gönner, Emmanuel Macron, der sie nach der Freisetzung von Eigentlich-Kandidat Manfred Weber aus dem Nichts (= dem deutschen Verteidigungsministerium) ins Spiel gebracht hatte, begründete seine Wahl: »Sie spricht meine Sprache.« Was viele Deutsche nicht wahrhaben wollen: Im Ausland ist von der Leyen beliebt. »Ürsüla«, hauchen die Franzosen zärtlich. »Örssolla« raunen die Amerikaner voll Ehrfurcht. »Uursuulati«, »Oursoúla«, »Orsuloższakaja«, schallt es aus allen Himmelsrichtungen dieses Kontinents.

Manche sagen, diese Frau sei für einen EU-Posten kein Quäntchen qualifiziert. Sie selbst sagt, sie habe Europa mit der Muttermilch eingesogen. »Brussels-born. European by heart«, heißt es sackstolz in ihrer Twitter-Bio. Sie ist im Brüsseler Diplomatenkiez aufgewachsen, als Tochter eines EU-Beamten. Hier kannte sie als junges Mädchen jede Politikerpinte, konnte »Beamtenpension« dreisprachig aufsagen. Witzig: Die Enkelin ihrer einstigen Amme schrubbt heute das Parkett ihres Brüsseler Appartements.

Ursula von der Leyen ist Europa in einer Person: bulgarische Fönfrisur, französische Strickjacke, österreich-ungarisches Weltbild, lettisches Lächeln, finnische Todessehnsucht und polnische Gottgläubigkeit. Ihre Lieblingsband ist »Europe«, ihr Talisman ein blanker Eurocent. Sie liebt Euro-Disney und die europäische Grenzagentur »Frontex«, die sie immer weiter aufstockt. Von der Leyen weiß, wo Europa anfängt (im antiken Griechenland) und aufhört (am Bosporus).

ROCK’N’RÖSCHEN

Ihr wichtigstes, selbst kreiertes EU-Projekt namens »European Green Deal« basiert auf einer völlig neuen Idee: den Klimawandel zu stoppen. Sie weiß auch wie, und zwar, indem man »die Wirtschaft mit dem Planeten versöhnt«. »We do not own this planet«, schleudert sie der Weltöffentlichkeit entgegen. Jede Silbe ein Peitschenhieb. Von der Leyen liebt klare Konzepte. »50 Aktionen bis 2050«, das ist der Fahrplan des Deals. Ob dazu freche klimakritische Die-ins oder ein Verbot des Verbrennungsmotors zählen, lässt sie noch ein Weilchen offen.

Weggefährten gilt »The Steel Magnolia of Brussels« (»Daily Express«) als eiserne Perfektionistin. Freunde (Jarosław Kaczynski) wie Feinde (Sozialdemokraten) preisen ihr »unmenschliches Arbeitspensum«. Von der Leyen arbeitet von morgens bis zum Sonnenuntergang, im Winter sogar noch länger. Wenn ein Mitarbeiter ihr eine Rede hinlegt, liest sie diese vorher noch mal durch, unterstreicht wichtige Stellen mit Textmarker, ehe sie ans Mikro tritt. Sie kann gleichzeitig über europäische Gastfreundschaft twittern und nebenher per Telefon ein paar Grenzen verstärken. Sie kann Vorträge auf Englisch halten und sich dabei simultan übersetzen.

Von der Leyens Tugenden sind so zahlreich wie ihre abgetragenen politischen Ämter und fußen alle auf einer: protestantischer Enthaltsamkeit. Keine Zigaretten, kein Alkohol, keine Kinderpornos, da ist sie konsequent. Wenn sie abends in ihrer bonbonfarbenen Strickjacke stocknüchtern im Kreise der Kollegen in einer Brüsseler Afterwork-Taverne sitzt, studieren ihre Kulleraugen kühl die mit jedem Schluck neu entgleisenden Gesichtszüge ihrer Feinde.

»The EU ice queen« (»The Times«) gilt als Kontrollfreak. Sie kontrolliert alle Anekdoten über ihre Person. Es gibt drei. Die schönste ist die, dass sie im Jahr 1978 in London unter dem Pseudonym »Rose Ladson« lebte. Ihr Vater, damals Ministerpräsident von Niedersachsen, hatte sie inkognito zum Studium ins Ausland geschickt, aus Angst, die RAF entführe sein »Röschen«. In London ranken sich noch heute Gerüchte: Mit Afro-Perücke und Elton-John-Brille sei sie über Rockkonzerte gestrolcht. Sie selbst erzählt, sie habe öfter die Bars in Soho besucht als die Bibliothek. So hätte es ewig weitergehen können. Doch so ging es nicht weiter. 1979 der Absturz: Medizinstudium in Hannover, Heirat, Geburt der Kinder, Umzug nach Burgdorf-Beinhorn, innerer Tod.

»President of the @EU_Commission. Mother of seven«, lauten die ersten Worte ihrer Twitter-Bio. Kann ein einzelner Mensch so viel erreichen? Heute pendelt die »Angelina Jolie der europäischen Politik« (Internet) im Eurocity zwischen Brüssel und ihrem niedersächsischen Familienlandsitz hin und her. Dort warten ihr Ehemann, die sieben Kinder und die fünf Ponys, aber die Ponys sind schon fast alle aus dem Haus.

In Deutschland ist die »Supermama« (Berlusconi) weniger beliebt. Vielleicht, weil man sie hier schon eine Weile kennt. Als niedersächsische Sozialministerin machte sie sich in den Nullerjahren einen Namen, als sie über Nacht das Blindengeld abschaffte. Als Bundesfamilienministerin zeigte sie, dass Kinder und Karriere wunderbar vereinbar sind, wenn man die richtige Herkunft hat. Ihr Redetalent (»Ich finde es ganz spannend und klasse, Christdemokratin zu sein«) war im ganzen Land bekannt. Von ihrer letzten Station als Verteidigungsministerin spricht sie heute nur noch ungern: zu frisch die Erinnerung an milchgesichtige Schulversager, eingeschweißte BW-Hartkekse, fleckige Taylor-Swift-Poster an Spinden und Haltungsprobleme, vor allem in der Rückenmuskulatur. Sie holte externe Berater für 155 Millionen Euro ins Haus, um in diesem Drecksloch von Bundeswehr endlich aufzuräumen, doch niemand dankte es ihr. Verschiedenste Ämter hatte sie bereits inne, doch es gibt den einen roten Faden: die Sorge um Schutzbedürftige. Erst Einkommensschwache, dann Krippenkinder, mindergebildete Bundeswehrsoldaten und heute Pleite-Südeuropäer, soll die Kommissionspräsidentin off the record einmal nach einer Sitzung gescherzt haben.

PATHOS UND PEITSCHE

»Vorschila« (tschechisch) liebt große Geldsummen. Vor allem jetzt, in Zeiten der Pandemie, mit ihrem Aufbaufonds »Next Generation EU«: 750 Milliarden, plus noch ein paar weitere Milliarden, es ist kompliziert. Natürlich weiß sie, wo das Geld herkommt: aus der Gelddruckmaschine. Jedes Geldbündel, das Brüssel Richtung Spanien oder Italien verlässt, zählt sie noch mal nach. Um das Hilfspaket schnüren zu können, vermittelte sie gewieft zwischen den »sparsamen Vier« (Österreich, Niederlande, Schweden, Dänemark), den »spendierfreudigen Fünf« (Südeuropa), den »nörgelnden Neun« (Osteuropa) und den »machtgierigen Zwei« (Deutschland und Frankreich). Am Ende brachte sie alle an einen Tisch. Weil Orbán und Co. wissen: Wer sieben Kinder durch einen Geburtskanal lotst, führt auch ein zerrüttetes Volk von 500 Millionen souverän durch die Krise. In dieser Krise ist »onze Urseken« (niederländisch), um die es im Winter ein wenig still war, pathosmäßig wieder voll in ihrem Element. Europa, überrumpelt »by an unknown enemy«, müsse aus der Pandemie als »new Europe« hervorgehen. »We either all go it alone«, stellte sie zur Wahl, ehe sie wieder eine ihrer genialen Kunstpausen einlegte, »or we walk that road together!«

Keine Frage: Diese Frau reibt sich für Europa auf. Hier ist sie geboren, hier will sie sterben, wenn ihr Lieblingskontinent nicht zwischenzeitlich zwischen China und USA zermalmt wird. Von der Leyen will auch Europa mächtiger machen, so mächtig wie sie selbst. Ein »Machtzentrum zwischen China und den USA« beschwört sie mit dem grausigen Lächeln einer Kolonialherrin. Europa müsse »die Sprache der Macht lernen«. Welche das ist, lässt sie, wie so vieles, noch ein paar Jahrzehnte offen.

 

Ella Carina Werner, Zeichnung: Greser & Lenz

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg