Humorkritik
(Seite 3 von 8)

Seefahrt und Brettl

Zahlreiche Auftritte des Varietékünstlers Joachim Ringelnatz hat Herbert Günther erlebt, einige davon schildert er in seiner rororo-Monographie des Dichters, und dabei wird deutlich: Ringelnatz' Verhältnis zur Bühne war nicht ungetrübt, Stimmungskanone mit Ablachgarantie ist der schmächtige Rezitator nie gewesen. Auch wenn ihm zuzeiten schon ein legendärer Ruf vorauseilte - immer wieder schlug ihm auch Unverständnis entgegen; Ernüchterungen, die dem feinen Artisten arg zu schaffen machten. Und gleichwohl aus der Distanz fast zwangsläufig erscheinen, denn Ringelnatz zeigte Eigenarten, die im klassischen Nummernprogramm eher unangebracht sind. Hier erzielen am ehesten eindeutige, wiedererkennbare Typen Wirkung: Ringelnatz indessen präsentierte sich vielseitig und als entschiedener Gegner von Wiederholungen.
Kaum eine Spielart seiner Lyrik, die er nicht für varietétauglich gehalten hätte. Derbe Tabuverletzungen wie zartesten Zuspruch hat er den Tingeltangels zugemutet, bisweilen sogar spontan vom einen Extrem ins andere umgeschaltet. Auf zwei tragende Säulen verzichtete er in seinem Repertoire aber nie: die Turngedichte und den "Kuttel Daddeldu"-Zyklus, wobei sich auch diese beiden Serien klar unterscheiden. Reüssierten die ersteren Texte prompt als Selbstläufer (begreiflicherweise: Ihr satirischer Charakter offenbart sich ebenso zweifelsfrei wie das Ziel des Spottes, die vaterländisch proklamierte Leibeserziehung nämlich; überdies gaben sie dem Vortragenden Gelegenheit zur traditionell dankbaren mimischen Sportler-Imitation), haben die Daddeldu-Balladen dagegen immer wieder Mißverständnisse provoziert; und auch hier trifft Ringelnatz eine Teilschuld: Markenzeichen seiner Bühnenerscheinung waren Matrosenkittel und Weinglas. Kein Wunder also, daß das Publikum ihn nur zu gern mit dem versoffenen, weltmeererprobten Balladenprotagonisten identifizierte, was den Dichter jedoch ebenso empfindlich kränkte wie jene Knitteldichtungen im "Daddeldu"-Stil, mit denen Bühnenkollegen den rezitierenden Pseudo-Seebären veralberten, oder journalistische Mutmaßungen über des privaten Ringelnatz' angeblich gewaltigen Schnapskonsum.
Unabhängig von solchen Nebengeräuschen sind's die "Daddeldu"-Gedichte selbst, die Komplikationen heraufbeschwören. Anders als z.B. Heinz Erhardts "Ritter Fips"-Episoden entwickeln sie sich höchst unterschiedlich und keineswegs durchweg lustig, nur bisweilen bedienen die Texte irgendwelche Publikumserwartungen, etwa wenn Daddeldu, in stark übertriebener Darstellung, rumhurt und Kindern Schweinkram erzählt. Doch just die beiden stärksten Stücke, "Kuttel Daddeldu im Binnenland" und "Kuttel Daddeldu und Fürst Wittgenstein", liefern nichts als gereimt-realistische Protokolle je einer Sauftour samt damit einhergehender Unfälle. Schilderungen, die um so mehr gemischte Gefühle erzeugen, als sie das Scheitern einer ausgesprochen sympathischen Figur dokumentieren.
Jene kabarettistische Ideallinie, die durch Pointen in regelmäßigen Abständen gekennzeichnet ist, hat Ringelnatz ohnehin nie einhalten können, nun ist sie ihm vollends abhanden gekommen. Statt dessen entdeckt er, bis heute kaum bemerkt, das moderne Lang- und Erzählgedicht, wie es vierzig Jahre später als vermeintlich brandneuer Amerikaimport gefeiert werden sollte. Mir jedenfalls lieferte meine jüngste "Daddeldu"-Lektüre die Postum-Begründung dafür, daß mir die Hervorbringungen der Bukowskis, Brinkmanns und Jürgen Beckers schon ihrerzeit wenig originell erscheinen wollten.
Avantgardistische Züge finden sich nicht allein in Ringelnatz' Prosa (wo sie im Falle der "…liner Roma…"-Fragmente mittlerweile höchstgermanistisch anerkannt sind), sondern auch da, wo sie kaum auf Wertschätzung hoffen durften: in Gedichten, die genuin für die Bühne bestimmt waren. Was Wunder, daß Ringelnatz, als er sich nach sechzehnjähriger Vortragstätigkeit vom Brettl verabschiedete, von seiner berühmtesten Figur begleitet wurde: Der mit Ringelnatz nie und nimmer identische, jedoch intim befreundete Daddeldu ist auf der ganzen Welt zu Haus gewesen - nur eben nicht auf der Varietébühne.


   1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8