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Willkommen im Kuhlenkamp (Teil 3)

Eine urbane Fortsetzungs-Horrorgeschichte von Sebastian Maschuw

Zu Teil 1

und Teil 2


Abwärts

Die folgenden Tage gestalteten sich noch viel unangenehmer als befürchtet. Neben ständigen Störungen durch Drahtseil-Geräusche während der Arbeit, während des Schlafens und während des abendlichen Sitzens vor dem Fernseher, hatte das Zipline-Fieber nicht nur seinen Jüngsten, sondern auch seine Tochter Saskia und am Ende sogar seine Frau Janina erwischt, die mit den Kindern und der Nachbarschaft nun jeden Nachmittag die Ziplines des Kuhlenkamps unsicher machte. Selbst die Excel-Tabelle vor seinen Augen sah mit etwas Fantasie aus wie eine der mörderischen Drahtseilkonstruktionen. Jede Zeile, jede Spalte eine sinistre Stahlbahn, die sich über den Monitor spannte und ihn verhöhnte. Die ihm seine Familie streitig machte. Seine Zukunft stahl.
"Howdy, Nachbar!" Mathias schrak auf und drehte sich so ruckartig zum Fenster, dass er sich den Nacken zerrte. "Oh Gott. Sie haben mich vielleicht erschreckt!" Es war Jochen aus der 16, der direkt vor seinem offenen Fenster auf der Seilrutsche zum Stehen gekommen war und jetzt aus knapp drei Metern Entfernung in sein Arbeitszimmer spähte.
"Du, Mattes. Hör mal, ich hab bei mir immer noch ein DHL-Paket für dich liegen, willst du das mal abholen, oder soll ich dir das einfach vorbeibringen? Wiegt ordentlich."
"Ja, sind wahrscheinlich die neuen Energydrinks meiner Frau."
"Jau, die sind ja immer schnell leer. Schön hast du’s übrigens da drin bei dir. Ich könnte das nicht, so von zu Hause arbeiten. Ich brauch das, morgens das Haus zu verlassen, weißte wie ich meine?" Aufmerksam inspizierte der Zipliner sein Interieur, von den Zimmerpflanzen bis hin zum ergonomischen Schreibtischstuhl. "Chic, chic. Wirklich. Hier, mit dem grünen Teppich. Aber halt nix für mich."
"Ähm, ja … Du, ich muss dann auch weitermachen. Könntest du vielleicht …?"
"Ach so. Ja, klar. Kannst du mir einen kleinen Schubs geben? Sonst dauert das ewig, bis ich unten bin. Wollte eine Runde im See drehen." Nachdem Mathias ihm Starthilfe mit einem Besenstiel gegeben hatte, wand er sich mit mahlenden Zähnen wieder seiner Arbeit zu. "Hey, Ralf. Hast du schon was rausfinden können? LG Mathias", tippte er auf seinem Handy und versuchte dann wieder zwischen all den Ziplines der Excel-Tabelle auf seinem Bildschirm noch irgendwas zu schaffen. Wenigstens seine Arbeit sollte unter der Situation nicht leiden.

Das Ende der Zipline

Es war der 21. Tag nach ihrem Einzug, es hatte den ganzen Tag geregnet und die Ziplines des Kuhlenkamp standen still, als mitten in der Nacht sein Telefon auf dem Nachttisch vibrierte.
"Hallo?" Jemand atmete schwer durch die Leitung.
"Grüße dich, Mathias. Ich hab Neuigkeiten."
"Ralf, es ist halb eins! Bist du bescheuert?"
"Ja, weiß ich, aber das kann nicht warten. Ich hab mir deinen Mike mal genauer angeguckt. Und ei-gentlich die ganze Nachbarschaft auch."
"Oh Gott, warte mal, lass mich kurz aufs Klo gehen, Janina schläft schon." Er sah zu seiner Frau, die nach drei Wochen Ultra-Fiesta-Konsum mittlerweile mit offenen Augen schlief, und bewegte eine Hand prüfend über ihrem Gesicht. Dann zog er sich seine Sparkassensocken an und tippelte wie ein Einbrecher durch den Flur ins Badezimmer. "Okay, schieß los."
"Also: Die Vorbesitzer deines Hauses sind kurz bevor ihr eingezogen seid einfach verschwunden! Spurlos. Absolut verdächtig, wenn du mich fragst. Und dann hab ich mich da mal reingefuchst. Euer Haus ist seitdem in Besitz einer Treuhandgesellschaft, und jetzt halt dich fest: Die gehört dem Michael Scharrenhauser, dem Mike, und den ganzen anderen Nachbarn!"
"Ralf, mal langsam bitte. Warum flüsterst du?"
"Werd' nicht wütend, aber mich hat das alte Investigativ-Feuer gepackt. Ich fühle mich wieder wie da-mals, als ich Anwaltsgehilfe war. Da bin auch immer irgendwo eingestiegen. Mir passt sogar der alte Turtleneck noch. Nur 'ne Mütze musste ich neu kaufen, kein Plan, wo die alt …"
"Ralf, lass den Scheiß, wo bist du?!"
"Ich bin bei deinem Mike im Schuppen, da hat der seine ganzen Unterlagen. Spionier' dem schon seit ein paar Tagen hinterher. Du glaubst nicht, wo der ein- und ausgeht. Der ist bei der Baubehörde, beim Bürgermeister, der hat sogar Verbindungen in den Landtag! Kompletter Wahnsinn und … oh. Bleib mal kurz dran, ich hör da was."
"Ralf …? RALF?" Mathias sprintete durch den Flur zum Wohnzimmerfenster, drückte die Jalousien herunter und sah in den Garten von Mike zu seinem Schuppen. Just in diesem Moment erlosch dort das Licht. Die Minuten vergingen, ohne dass etwas Nennenswertes geschah. Immer wieder sah er von seinem Telefon in den Garten seines hünenhaften Nachbarn. Kalter Schweiß sammelte sich in seinen viel zu dicken Anti-Rutsch-Socken. Matthias kaute angespannt auf seinen Fingernägeln, als er plötzlich ein ihm nur zu bekanntes Surren vernahm. Wenige Augenblicke später schoss schon etwas, das er nur als Müllsack bezeichnen konnte, an der Zipline vor seinen Augen vorbei Richtung See.

SOKO Seilrutsche

Mathias saß wieder auf dem Klodeckel, das Telefon manisch an seine Wange gepresst. Die flauschige Badezimmermatte wärmte seine zitternden Füße und gab ihm etwas Halt. Freizeichen. Unwillkürlich wippte er mit seinem rechten Fuß zu einem stummen Lied. Eine tiefe Frauenstimme meldete sich, im Hintergrund war ein für diese Uhrzeit ungewöhnlich reges Treiben zu vernehmen.
"Polizei-Notruf, wie kann ich Ihnen helfen?"
"Ähm, ja Meißner hier, ich will ein Verbrechen melden!"
"Aha, und von wo rufen Sie an?"
"Aus dem Kuhlenkamp, der Wendehammer an der Landstraße."
"Oha, Kuhlenkamp?! Das klingt ja abenteuerlich, was ist denn passiert? Ist was mit den Ziplines nicht in Ordnung?"
"Was? Nein. Also, mein Nachbar, ich … Also ich habe jemanden engagiert. Und der … was heißt denn abenteuerlich … also …"
… Zzzzzzzip …
"Ähm, was war das denn?"
"Bitte?"
"Ja ich habe da doch was im Hintergrund gehört?"
"Nee, hier war nix. Kann ich erst mal Ihren ganzen Namen aufnehmen? Und worum handelt es sich denn jetzt? Hallo? Hallo …?"
Mathias hatte schon panisch aufgelegt. Wie weit reichte die Verschwörung? Mit schwitzigen Händen wählte er die Nummer Ralfs und wartete fast drei vergebliche Minuten, während er seine Bahnen um den Badezimmerteppich drehte. Natürlich würde niemand abnehmen. Ralf war tot! Nicht mehr als ein lebloser Klumpen Fleisch an einer Zipline. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Janina noch schlief, zog er sich seine alten Wanderstiefel an, nahm sich eine Taschenlampe aus der Garage und ging vorsichtig über den Garten bergab Richtung See. Immer wieder stolperte er dabei über Wurzel-werk und musste aufpassen, nicht zu stürzen, während die Sparkassen-Stopper unangenehm gegen seine Sohle drückten und im Schuh hin und her rutschten. Wie fremdgesteuert setze er einen Fuß vor den anderen, bis er am See angekommen war. Das erste Herbstlaub knirschte nervtötend unter seinen dicken Kunststoffsohlen, entwickelte aber nach einigen Minuten einen angenehm beruhigenden Rhythmus, der seine Gedanken ordnete und ihn wieder klar denken ließ. Bis er es sah.
Direkt am Pier nicht weit des Zipline-Stammes lag ein dunkelblauer Schatten, direkt am Wasser im Schilf. Der Sack, der eben noch vor seinem Fenster vorbeizippte! Ralf! Mathias hielt eine Hand vor die Taschenlampe und näherte sich dem leblosen Etwas auf Zehenspitzen. Seine Hände zitterten, keine Ausbildung, kein Studium konnte einen auf so eine Situation vorbereiten. Es war ihm, als müsste er im tiefsten Winter seine Schnürsenkel mit nackten Händen schnüren. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, den Knoten zu lösen, riss er schließlich den Plastiksack mit einem Ruck auf und sah direkt in das bleiche Gesicht seines alten Schulfreundes. Der Anblick schauderte ihn, ließ ihn verzweifelt in die feuchte Erde zurückfallen. Sein Atem ging schnell, und sein Herz schlug so laut, dass er das metallene Rattern über sich erst viel zu spät hörte.

Immerhin das nicht

"Mensch, Mattes. Das ist jetzt wirklich richtig scheiße hier. Das hätte wirklich klappen können mit uns." Aus dem Dunkel der Böschung hörte er Mike. Seine Sportsonnenbrille glitzerte bedrohlich im Mondlicht. Nach wenigen Sekunden schon hörte Mathias weiteres Knacken, Rascheln und Zippen. Rüdiger, der freundliche Rentner aus der 4, kletterte leise wie ein Luchs auf der Lauer hinter ihm an den Sprossen herab.
"Hört mal, das muss doch … also. Das könnt ihr doch nicht machen!"
"Du hattest echt alle Chancen, Mattes." Jan, das war Mikes Ältester, stand jetzt direkt neben ihm und schlürfte genüsslich aus seiner Dose.
"Jupp, wirklich alle Chancen. Aber wir können das nicht zulassen, dass du hier unseren Traum kaputt machst." Mike stand ihm gegenüber, ihre Nasen berührten sich fast.
"Das hier wird eine ganz neue Art der Mobilität, Mattes." Mit geweiteten Augen blickte er in die Runde. Neben Rüdiger, Jan und Mike standen da auch Bobbes, Marina und Birgit aus der 12. Die ganze Straße hatte sich um ihn versammelt. Seine Kehle schnürte sich zusammen. Immerhin war Janina nicht unter dem Mob. Immerhin das. Das Letzte, was Mathias Meißner hörte, war eine Zipline. Aber nicht das langsam anschwellende Surren hoch über ihm. Nur ein ganz kurzes, fast zaghaftes Spannen des Drahtseils, direkt hinter ihm. Er konnte sich nicht mehr umdrehen, als ihm das kalte Eisenseil um den Hals gelegt wurde. Zu viele, durch jahrelangen Zipline-Spaß gestählte Arme hielten ihn fest, ergossen sich über ihn wie die Tentakel eines unbeschreiblichen Grauens aus der Dunkelheit. "Es tut mir so leid, Matti", hörte er noch, bevor es um ihn herum dunkel wurde und er ein letztes Mal den strengen Geruch von Ultra Fiesta roch.



Zeichnungen: Leo Riegel

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
28.03.2024 Nürnberg, Tafelhalle Max Goldt
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt