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Willkommen im Kuhlenkamp (Teil 2)

Eine urbane Fortsetzungs-Horrorgeschichte von Sebastian Maschuw

Zu Teil 1


Eine ganz neue Art der Mobilität

Das Erste, was er hörte, noch vor dem Surren der Seilrutschen vor seinem Fenster, waren die Bagger und ein tiefes Grollen, das er nur weiteren Baustellenfahrzeugen zuordnen konnte. Verschwitzt schälte er sich aus der Bettdecke und musste zu seinem Unbehagen feststellen, dass Janina schon vor ihm aufgestanden war. Für gewöhnlich war er derjenige, der am Wochenende als erster auf den Beinen war. Ein Neuanfang halt. Drei leere Dosen Ultra Fiesta und zwei gelesene Romane auf dem Beistelltisch zeugten von einer langen Nacht.

„Janina?“ Keine Antwort. „Holger? Saskia?!“ Wieder nichts. Kein Wunder, der Baulärm übertönte nahezu jedes Wort. Mathias Meißner schlüpfte in seinen Bademantel zog sich zwei Gehsocken mit Antirutsch-Stoppern in Form des Sparkassenlogos über, die er bei der letzten Weihnachtsfeier in der Tombola gewonnen hatte, und ging verschlafen die Treppe herab. „Wo seid ihr denn alle?“ Weder Frühstück noch ein Kaffee waren für ihn angerichtet, die neue Küche in Klavierlackoptik stand leer.

Dann ratterte es bei ihm. Mit geweiteten Augen stürmte er aus dem Haus, sprintete über die kleine gepflasterte Einfahrt vorbei am grünen Mitsubishi, bis er mitten auf dem Wendehammer stand. Zu seiner Erleichterung hatte Mike ihm nicht über Nacht eine Zipline in den Vorgarten gebaut. Wohl aber eine zweite in seinen eigenen, direkt nebenan zu seinem Grundstück. Es verging keine Minute, da hatte Mike, der den Bauarbeitern gerade mit weiten Gesten Anweisungen gab, ihn schon erspäht und Janina, die zusammen mit ein paar anderen Nachbarn an einem kleinem Holztisch Platz genommen hatte und genüsslich an einer Dose Energy nippte, herbeigerufen.

„Guten Morgen, du Schlafmütze! Hey, alle hergehört, das ist unser neuer Nachbar, der Mattes!“

Pacific Punch 

„Ich heiße Mathias!“ brüllte der mittlerweile hellwache Bankangestellte in den aufsteigenden Baustellenlärm und die freundlichen Begrüßungen der Nachbarschaft. „Mathias Meißner!“ Er ignorierte das zuvorkommende Winken und die angebotenen Energydosen und stürmte ohne zu schauen über die Straße, vorbei an zwei Arbeitern, die gerade eine monströse Kabelrolle in Mikes Vorgarten karrten. „Du, Mike. Was ist denn hier los? Wir haben doch Samstag! Es ist erst neun Uhr!“

„Zipline-Stunde!“ schaltete sich ein junger Mann mit erhobenem Zeigefinger neben ihnen ein, der sich zuvorkommend als „der einzig wahre Bobbes“ vorstellte und gerade im Begriff war, sich einen quietschgrünen Helm überzustülpen. Mit einem schiefen Grinsen wischte Mathias die Begrüßung beiseite und insistierte: „Was ist denn jetzt hier?“ Der einzig wahre Bobbes wandte sich enttäuscht wieder den Frauen und seinem Monster Energy „Pacific Punch“ zu. Janina drückte ihm einen flüchtigen Kuss (Mango Loco) auf die Wange und warf ihm ein flehendes Lächeln zu.

„Du, mich hat unser Gespräch gestern so inspiriert, dass ich noch am Abend die Jungs von ,Z.I.P. Hoch und Tiefbau’ angerufen habe und das Moped in Auftrag gegeben habe. Die Zip hier läuft direkt aus meinem Schlafzimmer zur Bushaltestelle da hinten am Zubringer. Das spart mir morgens auf dem Weg zur Arbeit mindestens 4 Minuten. Und natürlich ’ne Menge Nerven.“ Mit einem Lachen drehte er sich zwei verschwitzten Männern in gelben Westen zu, die sich soeben zwei Spaten von einem Pritschenwagen nahmen.

„Die läuft ja dann direkt vor unserem Wohnzimmer entlang!“

„Na, warte mal. Also das sind mindestens fünf Meter, das haben wir ausgerechnet.“
„Aber es ist doch immer noch Samstag. Ich muss gleich auch noch ein bisschen arbeiten. Wie lange geht das denn hier noch mit dem Lärm?“

„Puh, die brauchen schon ein paar Stunden. Und wir wollen das Ding ja dann auch einweihen. Jungfernflug ist Chefsache. Und … hier, komm mal her.“ Er legte seinen gewaltigen Arm um Mathias und zog ihn ganz nah an sich heran. „Der Arbeitsweg ist auch nicht der einzige Grund, warum ich die bauen will.“ Unsanft nahm er Mathias’ Schulter und drehte ihn einmal um 180 Grad, als wäre er eine Schaufensterpuppe. „Das da hinten ist der Bürgermeister. Hier der etwas rundliche mit dem Schnauzer. Der schaut sich unsere kleine Siedlung gerade an und – jetzt halt dich fest – der überlegt, ob das hier ein Modellprojekt werden kann. Stichwort: Neue grüne Mobilitätskonzepte.“
„Was!?“ Im Hintergrund verschluckte sich ein Kind vor Schreck an seinem Energydrink.

„Ja, der will sehen, ob das hier wirtschaftlich ist und funktioniert. Stell dir mal vor: In ein paar Jahren brauchen wir keine Autos mehr! Da zippst du einfach von deinem Dach aus zum Supermarkt und wieder zurück. Dann zippt das ganze Land.“

„Oh Gott! Das ist doch Wahnsinn!“

„Allerdings. Und zwar wahnsinnig geil! Aber sag noch nichts, ich will den langsam an die Idee ranführen. Da muss man mit Fingerspitzengefühl ran. Boah, Mathias, das wird richtig stark. Wir zippen hier zusammen in die Zukunft.“ Mathias wollte prompt widersprechen, als ihm etwas in die Hüfte stach.

Das ist so super hier

„Papa, guck mal!“

„Holger, was hast du denn da …“ Sein Sohn, verschnürt in ein futuristisch anmutendes Zipline-Geschirr, stand direkt hinter ihm. Daneben ein paar Nachbarskinder, alle ebenfalls in voller Montur. Manche hatten ihren Vornamen auf Nylonriemen eingestickt. „Ich hab die Zip vom Mike in Rekordzeit geschafft! Schon beim dritten Mal! Gleich wollen wir die von Rüdiger machen aus der 7, die ist etwas steiler.“ Er umarmte seinen Vater auf Hüfthöhe. „Papa, das ist so super hier, danke!“

„Nee, also wir wollten doch gleich frühstücken. Lass uns doch erst mal ankommen. Und wir wollten doch an den See!“ Jetzt schaltete sich Mike ein. Sein massiges Kreuz verdunkelte vor Mathias fast die Sonne. Seine sonore Stimme vermischte sich mit dem Rasseln der abrollenden Kabeltrommel.
„Ach, lass die Kids doch mal machen. Wir wollen heute Abend übrigens das Spiel beim Rüdi schauen, bist du dabei? Der hat Sky, Bayern gegen Paris. Die Frauen gehen in die Stadt zum Tanzen und die Kids schauen solange Marvel. Der Jan passt auf die auf. Das ist mein Älte …“

„JA! Ja, ich weiß, dein Ältester. Du, Mike. Das geht mir irgendwie alles zu schnell, ich muss hier erst mal ankommen. Und ich muss jetzt auch arbeiten.“ Er nahm Reißaus und ließ seinen Sohn, seine Tochter und einen perplexen Mike sowie alle anderen wortlos hinter sich im Wendehammer stehen. Keine Minute später, angekommen in seinem Homeoffice, nahm er sein Handy zur Hand und klickte zielsicher auf eine Nummer in seinem Telefonbuch. Es klingelte in der Leitung. „Hi Ralf, ja, Mathias hier … Alles gut, ja, ja. Du ich brauche deine Hilfe. Bist du noch so investigativ unterwegs …? Super. Du musst jemanden für mich überprüfen.“ 

Fortsetzung folgt ...

 


Zeichnungen: Leo Riegel

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg