Inhalt der Printausgabe

Heinz Strunk

Intimschatulle 39: »Die gläserne Schüssel«

1.5. 6.30 Uhr hoch. Tageslauf: 1) Korrespondenz 2) Schreibtischschubladen geordnet 3) Stiefel gewichst 4) Blumen gegossen 5) zum Zahnarzt 6) weißleinenen Maureranzug gekauft, dazu eine entsprechende Mütze (Brecht-Style) 7) 16.00 Uhr Buchbasar 8) 18.00 Uhr Rückkehr vom Schilfmähen. Impuls des Tages: Gib alles oder laß es!

2.5. Zur Vervollkommnung meiner schriftstellerischen Laufbahn fehlt mir noch der ganz große Wurf, ein bahnbrechendes Epos, idealerweise Trilogie, jeder Band nicht weniger als ein Blauwal (= 1000 plus Seiten), insgesamt also bummelig 3000 Seiten. Titel: DIE GLÄSERNE SCHÜSSEL. Allein im Titel ist ja schon alles drin. Für die breite Masse unlesbar, Stichwort Ulysses. In 100 Jahren soll man sich zuraunen, insgesamt hätten nur sieben Menschen den Roman zu Ende gelesen. Und selbst denen sei er ein Rätsel geblieben. Aufgabe für die kommenden Jahre: systematisch für den Roman sammeln.

3.5. »Laßt endlich den Ernstfall eintreten, damit ich die Sorge los bin und handeln kann.« Ein Leben voll andauernder Sorge, aber schließlich die große Erleichterung, als die Katastrophe tatsächlich eintritt und man endlich etwas TUN kann.

4.5. Nehme eine im Laufe des Tages sich bedenklich steigernde Vitalitätssenkung wahr, die mich zwingt, bereits um 19.15 Uhr ins Bett zu gehen.

5.5. Gemischte Nachrichten von der isländischen Popsirene Björk (81): Seit ihre Songs auf Spotify kaum noch gestreamt werden, muß sich die exzentrische Heulboje notgedrungen in Nebenjobs verdingen. Stieß ihr Ein-Frau-Reinigungsdienst »Björks Wischmop« noch auf mäßige Resonanz, so entwickelte sich der Cateringservice Guðmundsdóttir BORGA TAKK! (übersetzt: Guðmundsdóttir [der Nachname der Elektrokünsterin] ZAHLEN, BITTE!), den sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Physiknobelpreisträger Hans »Hänschen« Uroholmen in der Inselhauptstadt Reykjavik betreibt, zu einem echten Erfolg. Renner ist neben »Vielerlei von Wal & Robbe« das »Carpaccio vom Polarfuchs«. Die Schatulle wünscht weiterhin viel Erfolg und einen guten Appetit!

6.5. Erst gegen neun hoch. Anmerkung: Überschlafen ist manchmal gut für die Produktion, weil die Träume vor dem Erwachen sehr lebhaft werden und gleichsam als Grundton poetisierend das wache Vorstellungsvermögen begünstigen.

7.5. Die Zeitschrift »Neon« wird eingestellt. Einer der vielen Gründe: In der Rubrik Singlebörse (oder so ähnlich) beschreibt sich ein Grafiker (31): »Ein paar Stunden Kundentermine sind okay, aber danach muß ich dann auch mal hart abspacken.« So stellt man sich den durchschnittlichen »Neon«-Leser vor.

8.5. Sachbuch »Durchbruch zum finanziellen Erfolg« von Büdek Letal: B. Letal, auch genannt »Mister Aua im Kopf«, gilt als einer der absoluten Top Speaker. (Wenn du wirklich brennst, kommen alle und wollen am Feuer stehen/Beginne den Tag früh und knocke die ganz wichtigen Dinge direkt als erstes aus/If you don’t feel like a winner, act like a winner/Das größte Risiko ist ein Leben ohne Risiko/create winning habits/Du mußt anfangen, bevor du bereit bist.) Bei der Speakers Night (Kölner Lanxess Arena) ist BL als Hauptact gebucht. Für so einen Auftritt bekommt er bis zu 20 000 Euro.

9.5. DIE GLÄSERNE SCHÜSSEL: Graf K, schlesischer Magnat, ostelbischer Uradel, viele Söhne, viele Töchter. Eine Tochter, Comtesse Agnes, seltsames Mädchen mit besonderen Anlagen. Ihr Weg über den Krieg, Ehe mit einem Sozialisten, Flucht und Heimkehr. Ein Sohn (Rüdiger) des Grafen heiratet die jüdische Bankierstochter Grete. Herrschaft des Grafen über die Kleinstadt K., dann Berlin. Der älteste Sohn Fritz geht nach New York, verliert sein gesamtes Vermögen am Schwarzen Freitag, Suizid. Frau des Grafen kränklich, Kindbett, Schwindsucht.

10.5. Schlagzeilen »vom Feinsten«: 1) MÄDCHEN ERLEGT BÄR MIT ARMBRUST 2) GAFFER ESSEN FEUERWEHR-LEUTEN DIE BRÖTCHEN WEG 3) MERKELS SELFIE-FÜCHTLING BETTELT IN FUSSGÄNGERZONE

Ob das wohl gut schmeckt? Ja! Ein Hoch auf Purps Party-Service

11.5. Heute taucht zwischen Kohl- und Blaumeisen, Buch- und Grünfinken, Sperlingen, Amseln, Goldammern auch ein Gimpel auf, ein starenartiger, großer bunter Vogel, den ich für einen Kreuzschnabel hielt. Bei näherer Betrachtung aber wurde ich unsicher. War es nicht ein Kirschkernbeißer? Beide Arten gehören zu den Finkenvögeln. Man weiß zu wenig. Was müßte man noch alles lernen?

12.5. Batterien im Milchaufschäumer gewechselt, Salz in Geschirrspülmaschine aufgefüllt, Rolex aufgezogen, Tee und Waschmittel gekauft, schwer zugängliche »Ecken« geputzt. Zwischendurch ZDF-Küchenschlacht (immer nur die letzten Minuten, wenn der Juror zum Kosten kommt) und Bares für Rares.

13.5. Eine gar nicht mal so dumme Frage: Wie groß ist eigentlich die Minderheit, der man angehört? Wie viele Deutsche beispielsweise verstehen die Intimschatulle? Ein Achtzigstel (ca. 1 Million)? Oder ist das viel zu hoch gegriffen? Ein Achthundertstel (80 000)? Oder noch viel weniger, ein Achttausendstel (8000)? Vielleicht ist selbst das noch zuviel. Realistisch: 1000. 1000 von ca. 100 Millionen (wenn Österreich und Schweiz und so eingerechnet werden). Déprimé.

14.5. DIE GLÄSERNE SCHÜSSEL: Wie lange brauche ich wohl dafür? 10 Jahre, 20 Jahre, gar länger? Also rasch, rasch, rasch wieder heim ans Papier. Oft sacke ich am Schreibtisch zusammen, der Kopf schlägt auf die Tischplatte, die Physis versagt. Meine Angst: Ohne daß die Hauptsache getan wäre, zu verenden. Alles Angefangene, was ich hinterlasse, macht einen grotesken, und vor Unfertigkeit eigentlich lächerlichen Eindruck. Also weiterschreiben, solange ich noch kann, die Schüssel, die Schüssel, die Schüssel …

15.5. Träumte, ich hätte 1,60 m lange Beine, dafür aber einen sehr kurzen Oberkörper und einen Riesenkopf (Kindergreis). Unschön. In diesem Zusammenhang: »Pierre M. Krause weiter in der Schrumpfung.« Es kommt mir tatsächlich so vor, als würde er immer kleiner, schrumpeliger, knurpsiger, ein stetiges Zusammenschnurren.

16.5. 1) Sätze, die sich mir unauslöschlich eingebrannt haben: Dieter Bohlen, irgendwann in den Neunzigern: »Ich sitze morgens hier auf meiner Terrasse, gucke auf die Alster, trinke Tee, und finde alles geil.« Glückspilz müßte man sein. 2) Leute, die kennenzulernen unbedingt lohnt: Lonely Lieutenant »Rübe«, Manfred Bestiali, Kurt Ast.

17.5. Unerquickliche Begegnung mit Meyer-Schulau. Boshafte Tirade gegen den DDR-Poeten Durs Grünbein, den er der Hochstapelei in Kunsttheorie, Hochstapelei im Drama, Hochstapelei im Lyrischen (»ungeheure Wülste, mit Häcksel gefüllt«) bezichtigt. Bleibe ein Talentchen für harmlose Reimerei. Meyer-Schulau, nun vollends in Rage: »Der Hochstapler stapelt weiter.« Höre es mir unbewegt an, verabschiede mich schließlich mit einer Ausrede (Kauf eines neuen Badeschwamms).

18.5. DIE GLÄSERNE SCHÜSSEL: Die Verknüpfung darf nicht die einer großen Intrige sein, sondern die des scheinbaren Zufalls, also des Schicksals. Rehabilitierung der Beschreibungsliteratur (1966 von Peter Handke geächtet). Drei Bände: Erster Band Vorkrieg/Wilhelminisch/Krieg. Band zwei Nachkriegszustand. Band drei: DDR/BRD 1954–2013.

19.5. Heute nichts.

20.5. Turnübungen, Massage, Schlammbad. Die Arbeit am St. Leopolder Basalt-Viereck fortgesetzt. Beachtliche Fortschritte. Das Viereck erscheint bei näherer Betrachtung seltsam rund. Gut. Abends in Richard II. gelesen. Die beiden großen Familien der Shakespearschen Gestaltenwelt: die Tatmenschen, die Unentschlossenen. Und oft ist der Unentschlossene die Hauptfigur des Stücks, dessen eigentlicher Gegenstand der Verfall ist.

21.5. Alltagsfrage: Warum duften eigentlich Blumen?

22.5. Eine gute Idee der Firma Pro Idee: Hoca. Bedeutet: hocken statt sitzen. Hoca gibt Ihnen auf dem WC die optimale, natürliche Haltung. Denn Forscher warnen: Die aufrechte Haltung widerspricht der Anatomie des Menschen und wirkt sich negativ auf die Darmentleerung aus. Durch diese 90-Grad-Haltung klemmt der Darm wie ein Gartenschlauch ab, schwere gesundheitliche Schäden können die Folge sein.

23.5. Was könnte auf die SCHÜSSEL folgen? (Voraussetzung: Ich lebe noch. Die SCHÜSSEL oder ich.) Vielleicht ein großes Tier-Epos. Die Ameisen. Die Affen. Ein weiterer zeitloser Klassiker, genau tausend und eine Seite stark.

24.5. Sat.1-Blitzüberweisung erhalten.

25.5. Liste von Dingen, die eigentlich ganz okay sind: Daß ich kein Sklave bin. Daß ich meinen Führerschein schon gemacht habe. Daß ich beim Positionierungs-Workshop »Highlight« zu den ersten fünf zähle.

26.5. Gesehen bei Bares für Rares: Eine etwa sechzigjährige Frau, Typ liebes Tantchen, möchte ihre silberne Halskette verkaufen. Standardfrage Horst Lichter: »Darf ich fragen, wo die Kette her ist?« Die Frau gibt an, sie zu ihrer Hochzeit vor 32 Jahren geschenkt bekommen zu haben. Horst Lichter: »Also, mir gefällt die jut. Tolles Stück dat. Warum willste die denn verkaufen, mein Täubchen?« Frau, ausweichend: »Weil ich sie so lange schon nicht mehr getragen habe.« HL setzt nach: »Gefällt dir dat jute Stück etwa nicht mehr?« Frau zeigt auf ihren Hals und sagt: »Doch, sie paßt nur nicht mehr«. Sie schämt sich. Daraufhin Horst Lichter mit dem bestmöglichen Satz: »Mensch, mein Engelchen, dat macht doch nix. WIR WERDEN IM ALTER EBEN ALLE MEHR.« Die Frau, verstanden und getröstet, nickt erleichtert. Was für ein Satz! Phantastisch, kann so nur Horst Lichter bringen. Versöhnliches Ende: Die Kette wurde 140 Euro über Schätzpreis (500 Euro) an Händler »Waldi« verkauft.

27.5. Unglaublich verdreckte Fickschüsseln: Opel Senator, Renault Ei, Nissan Konfetti.

28.5. Interessante Krankheit mit einem interessanten Namen: Lutz-Dysplasie.

29.5. Karriereschatulle: 1) Wenn du versuchst hineinzupassen, wirst du bloß verschwinden 2) Dem Geld darf man nicht nachlaufen, man muß ihm entgegenkommen 3) Ein Vogel hat niemals Angst, daß der Zweig unter ihm brechen könnte

30.5. Nach der SCHÜSSEL und den AMEISEN könnte ich noch einen großen Briefroman »hinterherschieben«, mir schwebt da was Ähnliches vor wie die Persischen Briefe (Charles de Secondat, Baron de Montesquieu).

31.5. Humor kann niemanden retten … letztlich bricht einem das Leben doch das Herz.

Nach Notat im Bett.

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ah, »Galileo«!

Über die Arbeit von Türsteher/innen berichtest Du: »Viele Frauen arbeiten sogar als Türsteherinnen«. Wir setzen noch einen drauf und behaupten: In dieser Branche sogar alle!

Schmeißen diese Erkenntnis einfach mal raus:

Deine Pointen-Bouncer von Titanic

 Könnte es sein, »ARD-Deutschlandtrend«,

dass Dein Umfrageergebnis »Mehrheit sieht den Frieden in Europa bedroht« damit zusammenhängt, dass seit über zwei Jahren ein Krieg in Europa stattfindet?

Nur so eine Vermutung von Titanic

 Ein Vorschlag, Clemens Tönnies …

Ein Vorschlag, Clemens Tönnies …

Während Ihrer Zeit im Aufsichtsrat bei Schalke 04 sollen Sie in der Halbzeitpause einmal wutentbrannt in die Kabine gestürmt sein und als Kommentar zur miserablen Mannschaftsleistung ein Trikot zerrissen haben. Dabei hätten Sie das Trikot viel eindrücklicher schänden können, als es bloß zu zerfetzen, Tönnies!

Sie hätten es, wie Sie es aus Ihrem Job kennen, pökeln, durch den verschmutzten Fleischwolf drehen und schließlich von unterbezahlten Hilfskräften in minderwertige Kunstdärme pressen lassen können.

Aber hinterher ist man immer schlauer, gell?

Dreht Sie gern durch den Satirewolf: Titanic

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

 Bild.de!

»Springer hatte im Januar bundesweit für Entsetzen gesorgt«, zwischentiteltest Du mit einem Mal überraschend selbstreferenziell. Und schriebst weiter: »Nach der Enthüllung des Potsdamer ›Remigrations‹-Treffens von AfD-Politikern und Rechtsextremisten postete Springer: ›Wir werden Ausländer zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimnis. Das ist ein Versprechen.‹« Und: »In Jüterbog wetterte Springer jetzt gegen ›dahergelaufene Messermänner‹ und ›Geld für Radwege in Peru‹«.

Dass es in dem Artikel gar nicht um Dich bzw. den hinter Dir stehenden Arschverlag geht, sondern lediglich der Brandenburger AfD-Vorsitzende René Springer zitiert wird, fällt da kaum auf!

Zumindest nicht Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Frage an die Brutschmarotzer-Ornithologie

Gibt es Kuckucke, die derart hinterhältig sind, dass sie ihre Eier anderen Kuckucken unterjubeln, damit die dann fremde Eier in fremde Nester legen?

Jürgen Miedl

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg