Inhalt der Printausgabe

Dezember 2003


Weihnachtsgeschichte - bitte nicht vor dem 4. Advent lesen!
Das Geschenk
(Seite 2 von 2)
Ich pochte zaghaft an die Tür.
Hinterrücks, in indianischem Schleichgang, hatte sich unterdessen Hülskamp oder Niggemeyer oder Unleserlich auf den Treppenabsatz zwischen der zweiten und der dritten Etage begeben und krächzte von dort aus: "Sind Sie von der da?"
"Wie bitte?"
Hülskamp oder Niggemeyer oder Unleserlich lief rot an. "Ob Sie von der da sind!"
Er mußte gar nicht viele Worte machen, um mir einen Aufriß seines Charakters zu geben. Es genügte, daß er mit Adlernase und Opahose auf der Treppe stand, das künstliche Gebiß bleckte und mit seinem knotigen Zeigefinger fuchtelte. Hier war er, der aufbrausende Mehrparteienhauskobold in der ganzjährig lieferbaren Spezialanfertigung "Giftspuckender Frührentner".
Dir gebe ich noch maximal fünf Jahre, dachte ich, aber was ich sagte, war: "Ich will hier nur was abliefern. Frohe Weihnachten!"
Der alte Knilch funkelte mich feindselig an, und ich war noch damit befaßt, mir eine Strategie für den weiteren Kleinkrieg zurechtzulegen, als die Wohnungstür weit aufgerissen wurde.
Vor mir stand Ragnhild. Wie alt mochte sie sein? Dreißig? Ihren Eltern hatte bei der Namenswahl möglicherweise das Bild einer vor Selbstbewußtsein strotzenden germanischen Kriegerin vorgeschwebt, die jeden Tag drei Drachen niederringt. Die Ragnhild, die vor mir stand, sah anders aus. Ihr Make-up war hoffnungslos zerlaufen, ihre Nasenflügel zitterten, und auf den Ärmeln ihres T-Shirts war das Gemisch aus Tränen und Nasensekreten noch nicht getrocknet. Immerhin trug das T-Shirt die Aufschrift "Bronx Bronx Bronxxx Bloody Mercenary BLUTRAUSCH Festival xxx.extreme SOLD OUT".
"Wenn Sie von der da sind, dann sagen Sie der mal, daß ich auch die Polizei holen kann", meckerte der Knilch.
 

Das brachte Ragnhild auf Trab. "Zieh ab, du Niete!" kommandierte sie, und binnen Sekunden - hast du nicht gesehen - kniff die gesamte unheilige Dreifaltigkeit aus Hülskamp, Niggemeyer und Unleserlich den Schwanz ein. Treppe rauf, Tür zu.
Bumm.
"Wolltest du zu mir?" fragte Ragnhild und blickte mich aus zwei verweinten Augen leicht mißtrauisch an, so wie sie wohl schon viele Scheißkerle angeblickt hatte, immer auf der Suche nach dem Mann fürs Leben, der kein Langweiler war, einen Job hatte, nicht zuviel trank und ihr die Aufgabe abnahm, bekloppte Nachbarn in Schach zu halten. Da waren starke Arme und eiserne Nerven gefragt. Und nun kam ich bei dieser Frau mit Bruno angedackelt, dem Luftikus aus dem Reisekoffer.
"Ich hab hier nur was abzuliefern", sagte ich. "Ein Weihnachtsgeschenk. Von einem Freund von mir…" Ragnhild dirigierte mich in die Wohnung und schloß die Tür. Auf dem Boden lagen Stöckelschuhe und Sandaletten, zwischen denen ich die Sackkarre hindurchmanövrieren mußte, und ich war noch nicht damit fertig, als Bruno mir durch Rufe und Bewegungen signalisierte, daß der Sauerstoff im Koffer knapp werde.
"Willst du was trinken?" rief Ragnhild aus der Küche. "Ich hab aber nur Leitungswasser und Weizenbier!" "Leitungswasser ist okay", rief ich zurück und tastete meine Manteltaschen nach der Grußkarte ab, auf der die Nummer für das Zahlenschloß stand, aber da war nichts. Keine Grußkarte, keine Nummer.
"Keine Luft mehr, keine Luft mehr!" schnarrte Bruno und bauchte mit Fußtritten und Karateschlägen den Koffer aus.
Das brachte uns nicht weiter. Ich probierte es mit gutem Zureden, aber entweder hatte Bruno die Zahlenschloßnummer vergessen, oder er war bereits zu stark in Panik geraten, um seinem Gedächtnis die korrekte Nummer zu entlocken. Er tobte und brüllte, und er brachte es fertig, mit dem Koffer, in dem er gefangen war und zu ersticken drohte, durch Ragnhilds Flur zu hüpfen.
Einige Sekunden lang glotzten Ragnhild und ich den hoppelnden Koffer an und lauschten Brunos Gebrüll. Dann lief Ragnhild weg und kehrte mit einer Art Brechstange zurück, die sie ohne langes Fackeln ansetzte. Es machte knacks und peng und kracks; dann sprang der Koffer auf.
Bis heute frage ich mich, wo Ragnhild die Brechstange hergeholt hatte. Und bis heute sehe ich Bruno vor mir, wie er aus dem Koffer platzte. Es war kein schöner Anblick. Beim Zappeln hatte er die Flasche mit dem Erdbeersekt entkorkt, und bis auf einen kleinen Rest war ihm der Inhalt um die Ohren geflogen. Die durchnäßte Kapuze und der Bart baumelten ihm am Hals runter, die Unterhose hing auf halb acht, und die im Koffer ausgestandene Todesangst hatte Brunos Blase und Brunos Darm offenbar zu verstehen gegeben, daß jetzt alles egal sei und alles raus müsse. Räumungsverkauf!
Wir waren ziemlich schnell wieder an der frischen Luft.
"Schwör mir, daß du von dieser Sache niemals irgendwem irgendwas erzählen wirst", sagte Bruno, als wir im Schneeregen auf der Lambertistraße standen, ohne Koffer und ohne Sackkarre.
Ich versprach's und ging zufrieden meiner Wege, denn ich bin einer, der seine Versprechen hält.

Gerhard Henschel


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hallihallo, Michael Maar!

In unserem Märzheft 2010 mahnte ein »Brief an die Leser«: »Spannend ist ein Krimi oder ein Sportwettkampf.« Alles andere sei eben nicht »spannend«, der schlimmen dummen Sprachpraxis zum Trotz.

Der Literatur- ist ja immer auch Sprachkritiker, und 14 Jahre später haben Sie im SZ-Feuilleton eine »Warnung vor dem S-Wort« veröffentlicht und per Gastbeitrag »zur inflationären Verwendung eines Wörtchens« Stellung bezogen: »Nein, liebe Radiosprecher und Moderatorinnen. Es ist nicht S, wenn eine Regisseurin ein Bachmann-Stück mit drei Schauspielerinnen besetzt. Eine Diskussionsrunde über postmoderne Lyrik ist nicht S. Ein neu eingespieltes Oboenkonzert aus dem Barock ist nicht S.«

Super-S wird dagegen Ihr nächster fresher Beitrag im Jahr 2038: Das M-Wort ist ja man auch ganz schön dumm!

Massiv grüßt Sie Titanic

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Hej, Gifflar!

Du bist das Zimtgebäck eines schwedischen Backwarenherstellers und möchtest mit einer Plakatkampagne den deutschen Markt aufrollen. Doch so sehr wir es begrüßen, wenn nicht mehr allein Köttbullar, Surströmming und Ikeas Hotdogs die schwedische Küche repräsentieren, so tief bedauern wir, dass Du mit Deinem Slogan alte Klischees reproduzierst: »Eine Schnecke voll Glück«? Willst Du denn für alle Ewigkeiten dem Stereotyp der schwedischen Langsamkeit hinterherkriechen? Als regierten dort immer noch Sozialdemokraten, Volvo und Schwedenpornos?

Damit wirst Du nie der Lieblingssnack der Metropolenjugend!

Sagen Dir Deine Zimt- und Zuckerschnecken von Titanic

 Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Die Bunte zitiert Sie mit der Aussage: »Um zu überleben, muss man gesund sein, und wenn man am gesündesten ist, sieht man einfach auch am jüngsten aus!« Gut, dass Sie diese Erkenntnis an uns weitergeben!

Geht jetzt zur Sicherheit bei jeder neuen Falte, Cellulitedelle und grauen Strähne zum Arzt:

Ihre greise Redaktion der Titanic

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg