Inhalt der Printausgabe

Dezember 2003


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Weihnachtsgeschichte - bitte nicht vor dem 4. Advent lesen!
Das Geschenk
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Gegen Weihnachten hatte ich nie viel gehabt, nicht einmal gegen den oft gescholtenen Konsumrausch und schon gar nichts gegen die Glühweinbuden und den guten Lebkuchenduft und die Blechbläser in der Fußgängerzone. Für den Zauber dieser gnadenbringenden Zeit war ich immer empfänglich gewesen, jedenfalls bis zu jenem Tag der Schande und des Grauens, jenem 24. Dezember, als ich eine Sackkarre mit einem schimmeligen Reisekoffer über die Lambertistraße schob und von Unheilsvisionen gepeinigt wurde. Ich wußte, ich tat das Falsche, aber ich tat es meinem alten Freund Bruno zuliebe. Er hatte angedeutet, daß es in seiner Macht stehe, in einem Anzeigenblatt unserer Stadt in der Rubrik "Fahrrad sucht Fisch" eine dümmlich und vulgär formulierte Kontaktanzeige aufzugeben ("Hey Ladies, wer von euch hat Bock auf einen alten Bock mit Bock?") und diesen Schmutz mit einem Porträtfoto meiner Person zu garnieren, das er selbst geschossen hatte. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, wenn ich erklären wollte, weshalb ich auf dem Foto schiele, einen Büstenhalter auf dem Kopf liegen habe und ein Gummihuhn küsse. So war es halt, und weil ich dem Fotodokument keine massenhafte Verbreitung wünschte, mußte ich am Heiligen Abend diesen schäbigen Koffer aus Lederimitat ans Ziel befördern. Das Ziel war die Wohnung einer gewissen Ragnhild, in die Bruno sich verknallt hatte.
Vorläufig lag er noch zusammengekauert im Koffer, bekleidet nur mit einer knielangen, rot-weiß-gestreiften, am Bund mit einer Girlande aus Christbäumen verzierten Unterhose, einem wallenden Weihnachtsmannkittel, einer entsprechenden Bommelkapuze und einem weißen, mit Tesafilm am Kiefer befestigten Wattebart.
"Du hast nichts weiter zu tun, als den Koffer mit mir drin bei Ragnhild abzuliefern, ihr die Grußkarte mit der Zahlenschloßnummer zu überreichen und abzudampfen", hatte Bruno gesagt. "Danach kommen wir schon ohne dich klar. Das müßtest sogar du gebacken kriegen. Oder ist das zuviel verlangt?"
Als Hauptgeschenk für Ragnhild wollte Bruno persönlich dem Koffer entsteigen, als leichtgeschürzter Weihnachtsmann, mit einem locker über die Schulter geschwungenen Jutesack, der als Zugabe eine Anderthalbliterflasche Erdbeersekt enthielt. Ob das für Ragnhild die richtige Dröhnung war, konnte ich nicht beurteilen. Ich wußte nur, was Bruno mir berichtet hatte - daß Ragnhild äußerlich einer filigranen Heideteichnymphe gleiche und sich finanziell mit Unterrichtsstunden in Earthing über Wasser halte.
Earthing bedeute Erdung. Da werde man geerdet, wenn man den Kopf zu hoch in den Wolken habe.
Kennengelernt hatte Bruno Ragnhild angeblich irgendwie bei Aldi. Die Sackkarre hatte er "in einem Brennesselfeld gefunden", und der Koffer war eine "Dauerleihgabe" seiner uralten Vermieterin, Frau Morgenstern, also ein Beutestück aus Frau Morgensterns aufgebrochener Kellerzelle.
Meinen Vorschlag, zu Fuß zu gehen und erst unmittelbar vor Ragnhilds Wohnsitz in den Koffer zu klettern, hatte Bruno abgewehrt. An seiner Stelle und in seiner frivolen Aufmachung wäre ich auch nicht gerne draußen herumgelaufen, nicht einmal die paar hundert Meter bis zu Ragnhilds Wohnungstür. Und so kam es, daß ich Bruno in Frau Morgensterns altem Stinkekoffer vor mir herkarrte und mir nach jeder leichten Bodenwelle einen Haufen Verwünschungen, Flüche und Scheltreden anhören mußte, die aber nur gedämpft aus dem Koffer hervordrangen. Wenn Bruno sich seiner Geliebten ohne blaue Flecken präsentieren wollte, hätte er nicht darauf bestehen dürfen, ihr mit der Sackkarre zugestellt zu werden.
 

Die Klingelschilder des Zielobjekts waren reine Poesie: Degener, Saroshi, Bredendonk, Unleserlich Schrägstrich Niggemeyer, Hülskamp, Schwertnich, M. Bierow, Müller Schrägstrich Fettner, MARKISEN Schlüter & Schwiertz, Diethardt Bindestrich F. Botze.
"Bredendonk", murmelte Bruno. "Zweiter Stock. Nimm den Fahrstuhl."
Er hatte alles ausgekundschaftet.
Aus der Sprechanlage ertönte auf mein Klingeln ein Grunzen, der Türsummer summte, und zwei Minuten später stand ich mit dem brunogefüllten Koffer auf der Sackkarre vor Ragnhilds sanft angelehnter Wohnungstür.
"Ja, sehr witzig!" keifte in der Wohnung eine Frau. "Sehr witzig! Du mich auch! Du treibst es doch mit jedem, du fette Scheißkuh, du alte… das muß ich mir… das muß ich mir von dir… halt doch dein Maul, du alte… ja, wer hat… wer hat denn… wer hat denn mit dem Oliver… ich hab euch doch… nein, jetzt hörst du mir mal zu! Jetzt hörst du mir mal zu! Ich hab doch gesehen, wie ihr da rumgemacht… wie ihr da… und ob ich das gesehen hab! Und ich war nicht die einzige! Wie ihr da… vor aller Augen… vor aller… ja, fick dich doch selber, du Nutte!"
Ein Gegenstand, wahrscheinlich ein kabelloses Telefon, wurde irgendwogegen geworfen, wahrscheinlich gegen eine Wand, und dann wurde es still. Wenn es Ragnhild gewesen war, die da mit einer guten alten Freundin geplaudert hatte, würde Bruno alle Hände voll zu tun haben bei dem Versuch, in Ragnhilds vier Wänden eine weihnachtliche Atmosphäre zu erzeugen, soviel war mir klar, und soviel schien auch Bruno klar geworden zu sein, denn er verhielt sich vorbildlich still in seinem Koffer.


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 So ist es, Franz Müntefering!

So ist es, Franz Müntefering!

Sie sind nun auch schon 84 Jahre alt und sagten zum Deutschlandfunk, Ältere wie Sie hätten noch erlebt, wozu übertriebener Nationalismus führe. Nämlich zu Bomben, Toten und Hunger. Ganz anders natürlich als nicht übertriebener Nationalismus! Der führt bekanntlich lediglich zur Einhaltung des Zweiprozentziels, zu geschlossenen Grenzen und Hunger. Ein wichtiger Unterschied!

Findet

Ihre Titanic

 Diese Steilvorlage, Kristina Dunz (»Redaktionsnetzwerk Deutschland«),

wollten Sie nicht liegenlassen. Die Fußballnation hatte sich gerade mit der EM-Viertelfinalniederlage gegen Spanien angefreundet, der verlorene Titel schien durch kollektive Berauschtheit an der eigenen vermeintlich weltoffenen Gastgeberleistung sowie durch die Aussicht auf vier Jahre passiv-aggressives Gemecker über die selbstverständlich indiskutable Schiedsrichterleistung (»Klarer Handelfmeter!«) mehr als wiedergutgemacht, da wussten Sie einen draufzusetzen. Denn wie es Trainer Julian Nagelsmann verstanden habe, »eine sowohl fußballerisch als auch mental starke National-Elf zu bilden«, die »zupackt und verbindet«, hinter der sich »Menschen versammeln« können und der auch »ausländische Fans Respekt zollen«, und zwar »auf Deutsch« – das traf genau die richtige Mischung aus von sich selbst berauschter Pseudobescheidenheit und nationaler Erlösungsfantasie, die eigentlich bei bundespräsidialen Gratulationsreden fällig wird, auf die wir dank des Ausscheidens der Mannschaft aber sonst hätten verzichten müssen.

Versammelt sich lieber vorm Tresen als hinter elf Deppen: Titanic

 Kleiner Tipp, liebe Eltern!

Wenn Eure Kinder mal wieder nicht draußen spielen wollen, zeigt ihnen doch einfach diese Schlagzeile von Spektrum der Wissenschaft: »Immer mehr Lachgas in der Atmosphäre«. Die wird sie sicher aus dem Haus locken.

Gern geschehen!

Eure Titanic

 Wurde aber auch Zeit, Niedersächsische Wach- und Schließgesellschaft!

Mit Freude haben wir die Aufschrift »Mobile Streife« auf einem Deiner Fahrzeuge gesehen und begrüßen sehr, dass endlich mal ein Sicherheitsunternehmen so was anbietet! Deine Mitarbeiter/innen sind also mobil. Sie sind unterwegs, auf Achse, auf – um es einmal ganz deutlich zu sagen – Streife, während alle anderen Streifen faul hinterm Büroschreibtisch oder gar im Homeoffice sitzen.

An wen sollten wir uns bisher wenden, wenn wir beispielsweise einen Einbruch beobachtet haben? Streifenpolizist/innen? Hocken immer nur auf der Wache rum. Streifenhörnchen? Nicht zuständig und außerdem eher in Nordamerika heimisch. Ein Glück also, dass Du jetzt endlich da bist!

Freuen sich schon auf weitere Services wie »Nähende Schneiderei«, »Reparierende Werkstatt« oder »Schleimige Werbeagentur«:

Deine besserwisserischen Streifbandzeitungscracks von Titanic

 Oha, »Siegessäule«!

Als queeres und »Berlins meistgelesenes Stadtmagazin« interviewtest Du anlässlich der Ausstellung »Sex. Jüdische Positionen« im Jüdischen Museum Berlin die Museumsleiterin und die Kuratorin und behelligtest die beiden unter anderem mit dieser Frage: »Linke, queere Aktivist*innen werfen dem Staat Israel vor, eine liberale Haltung gegenüber Homosexualität zu benutzen, um arabische und muslimische Menschen zu dämonisieren. Diese Aktivist*innen würden Ihnen wahrscheinlich Pinkwashing mit der Ausstellung unterstellen.«

Nun ist das Jüdische Museum Berlin weder eine Außenstelle des Staates Israel, noch muss man als Journalist/in irgendwelchen »Aktivist*innen« ihre antisemitischen Klischees, dass letztlich doch alle Jüdinnen und Juden dieser Welt unter einer Decke stecken, im Interview nachbeten. So können wir uns aber schon mal Deine nächsten Interviewfragen ausmalen: »Frau Pastorin Müller, Sie bieten einen Gottesdienst zum Christopher Street Day an. Betreiben Sie damit Pinkwashing für den Vatikanstaat?« oder »Hallo Jungs, ihr engagiert euch in einem schwulen Verein für American Football. Betreibt ihr damit nicht Pinkwashing für Donald Trump?«

Wird diese Artikel allerdings nicht mehr lesen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Der kästnerlesende Bläser

Es gibt nichts Gutes
außer: Ich tut’ es.

Frank Jakubzik

 Beim Aufräumen in der Küche

Zu mir selbst: Nicht nur Roger Willemsen fehlt. Auch der Korkenzieher.

Uwe Becker

 Dialog auf Augenhöhe

Zu meinen Aufgaben als Marketingexperte in einem modernen Dienstleistungsunternehmen gehört es unter anderem, unzufriedene Kunden zu beschwichtigen. Vor kurzem beschwerte sich einer von ihnen darüber, dass wir in unseren Texten immer dieselben Bausteine verwenden. Die Mail ließ mich ganz irritiert zurück. Ein Glück, dass wir für genau solche Anfragen gleich fertige Antworten haben.

Andreas Maier

 Krasse Segregation

Wer bestimmten Gruppen zugehört, wird auf dem Wohnungsmarkt strukturell diskriminiert. Viele Alleinstehende suchen händeringend nach einer Drei- oder Vierzimmerwohnung, müssen aber feststellen: Für sie ist dieses Land ein gnadenloser Apartmentstaat, vor allem in den Großstädten!

Mark-Stefan Tietze

 Zeitsprung

Dem Premierenpublikum von Stanley Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum« wird der Film 1968 ziemlich futuristisch II vorgekommen sein.

Daniel Sibbe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster