Inhalt der Printausgabe

Oliver Maria Schmitt

Die weichen Wände des Möglichkeitsraums

Kassel ruft die Kunst der Welt zur documenta XII

Die Warterei ist endlich vorbei: Nur noch ganz wenige Male aufwachen, dann dreht sich die Kunstwelt nicht mehr um Basel, ­Venedig oder New York, denn dann öffnet die weltweit bedeutendste Ausstellung gutaussehender, moderner und leider auch teurer Kunst ihre Pforten: Vom 13. bis 23. ­September ist in Frankfurt am Main die IAA, die Internationale Automobil-Ausstellung zu sehen. Bis dahin kann man sich die Wartezeit mit einem Ausflug nach Kassel ­verkürzen, denn da ist in diesem Sommer wieder ­documenta, die zwölfte von zwölf.

 

Die weltberühmte documenta ist eine Art mit Kunst aufgepimpte Bundesgartenschau von einzigartigem Rang. Für den Zeitraum von hundert Tagen wird sich die stolze Pökelfleischstadt Kassel in das »Museum der 100 Tage« verwandeln, die Tageskarte kostet nur 18 Euro. Und dafür gibt es eine riesige Auswahl phantastischer Kunstwerke zu sehen, von denen man einige ausdrücklich berühren darf, andere hingegen nicht. Viele Künstlernamen wird man noch nie gehört haben, aber das macht nichts, denn das Zeug wird hinterher sowieso weggeschmissen.

 

Einer alten, narrischen Tradition folgend, wird für jede Kasselaner documenta eine Leiter bestimmt, eine sog. »künstlerische Leiter«, denn ohne die geht es nicht. In den letzten Quinquennien wurde als künstlerische Leiter stets ein Vertreter einer unbeliebten Minderheit hergenommen: 1992 war es ein Holländer, 1997 eine Frau, danach ein schwarzer Afrikaner, und diesmal ist es ­sogar ein Ehepaar, es heißt: Herr Roger Martin Buergel mit Frau.

 

Roger »M.« Buergel, der nicht mit der gleichnamigen Hochzeitsnudel zu verwechseln ist, ist … ist – oje, jetzt hab ich die Schnur, das Seil, den Faden verloren…

In jedem Falle ist Buergel ein geeigneter Bewerber um den Posten der künstlerischen Leiter gewesen, denn er hat ihn ja sogar ­gekriegt, und das auch nur, weil er »als einziger Kandidat in den Bewerbungs­gesprächen ­keine Künstlernamen genannt« hat (Buergel in der Zeit vom 12. 4.). Das muß er von ­Helmut Kohl gelernt haben, der hat die Künstler­namen der beiden Spender auch nie genannt.

Aber gute Namen sind nicht alles, teuer ist auch guter Rat. Als künstlerische ­Berater im Hintergrund agieren hoffentlich wohl ­mindestens André Heller, Reinhold Messner, Hans Küng und Elke Heidenreich, andernfalls wird die Sache in Kassel schrecklich schiefgehen.

 

Einen Namen muß man allerdings ­nennen, wenn man von Roger M. Buergel spricht, nämlich den von seiner Frau. Frau Buergel (die jedoch anders heißt) wird gemeinsam mit ihrem Mann die Mega-Ausstellung kuratieren, so bleibt das Geld in der Familie. Außerdem sind Ehepaare in der Kunst nichts Ungewöhnliches, wenn wir z. B. an das Ehepaar Christo denken, an Gilbert & George, an Sonia und Robert Delaunay, an Alice und Ellen Kessler.

 

In seiner Jugend arbeitete Buergel mit ­Eimer und Feudel als »Privatsekretär« des orgiastisch-mysterischen Blutsudlers ­Hermann Nitsch, dann begann er sich für richtige Kunst zu interessieren. Seit 2001 ist der Mann mit dem leicht schwulen Menjou­bärtchen ­Dozent für Visuelle Theorie an der Universität Lüne­burg, und nach all den Jahren ist er nun selbst gespannt wie ein Flitzebogen, wie das ist, wenn man mal nicht theoretisch, sondern ganz in echt was zu sehen kriegt, was man sich in Lüneburg bislang nicht mal ­vorstellen mochte.

 

Ob sich Buergel wenigstens für die ­Dauer der documenta in Breughel ­umbenennen wird, ist noch unklar, aber das wäre als Konzept ja auch ’n bißchen dünne. Jede ­documenta braucht nämlich ein ­nachhaltiges kuratorisches Konzept, und da haben die Buergels ­einen voll fetten Hammer auf ­Lager: »Die documenta 12 hat einen Vorschlag zu machen: die Migration der Form.«

 

Bei seinen zahllosen vorbereitenden Dienstreisen um die ganze Welt ist dem Ehepaar Buergel nämlich aufgefallen, daß ­bestimmte Motive, Themen und Ideen überall grenz- und kulturüberschreitend immer wieder vorkommen. Beispiel: Hund, Katze, Maus; ­Liebe und Tod; Äpfel und Birnen. Ein ­anderes Beispiel wäre die Schnur, das Seil, der Faden, Strick, Schnur oder Kordel. Mit dieser neuartigen Reflexionstechnik wollen die ­beiden sympathischen Kunstfreaks »historisch-­politische Kontexte« öffnen, und wem das zu schwammig ist, für den kann Buergel auch genauer sprechen: »Genauer gesprochen entsteht ein Möglichkeitsraum, der nach Akteuren sucht.«

 

Sehr gut gefallen haben Buergel z.B. raum­greifende Installationen, in denen ­mehrere hundert Meter Schnur zur Geltung kommen. Wenn Buergel Schnüre aus Indien sieht, wie sie etwa die indische Künstlerin Sheela ­Gowda strickt (»zeichnerisch wie skulptural erschließt die Kordel Raum«), dann denkt er automatisch und nacheinander – wie am ­23. 4. auf einer ganzen FAZ-Seite ­nachzulesen war – an den »rituellen Gebrauch von ­Kurkuma«, an »traditionelles Frauenhandwerk, aber auch die typische Linearität indischer Malerei. Und eine Geburtserfahrung.«

 

Ferner auch mindestens an die »Formensprache der Moderne«, logisch, an »anthropo­morphes Gemenge von Schnüren« und ­damit zwangsläufig an die »Kolonialisierung des indischen Subkontinents durch die ­Briten«, vulgo die »East India Company«, die ­damit verbundene, ja verschnürte »Erfindung der ­Spinning Jenny im Jahr 1764«, an »Zeit­achsen« und das darin verstrickte (sic!) »Flechtwerk politischer Formbeziehungen«, an Lorenzettis Fresken über die »Gute und schlechte Regierung« im Palazzo ­Pubblico zu Siena, wo, man glaubt es nicht, ebenfalls ein Seil eine Rolle spielt (Buergel: ­»Dieser Strang ist ­eine Kordel«), jedoch ist bei ­Lorenzetti »der Nadel­kopf im Sinne einer modernen Demokratie entschärft«, wodurch auf der »Grundlage formaler ­Korrespondenzen« die so verzweifelt gesuchte »neue Bedeutungsebene« entsteht, m. a. W.: »Genauer gesprochen entsteht ein Möglichkeitsraum, der nach Akteuren sucht.« Genau.

 

Nicht jedoch denkt Buergel dabei an ­einen gerissenen Geduldsfaden, an die brennende Lunte, das grüne Band der Sympathie, den dicken Strick, der Saddam vorm völligen Absturz rettete, an Auktionsseilschaften im internationalen Investmentkunstbereich oder an Makramee. Macht aber nix, die Kunst ist frei.

 

Und wer Muße hat, in Buergels Sinne weiter­zusuchen und zu denken, der kommt aus dem Finden gar nicht mehr heraus. So ­sehen wir zum Beispiel auf einem neuer­lichen Bild des Modekünstlers Jonathan Meese viele lange Haare, aber auch Meese selbst hat lange Haare, und Haare spielen auch beim Fetischschmuck südamerikanischer Ozelotl-­Indianer eine Rolle, außerdem braucht man sie zur Produktion von Filz (Beuys!) und schnitt sie den Juden gleich säcke­weise ab. Da kann man hübsch drüber nachdenken, wenn man’s bezahlt kriegt, kann verpanzerte Denkstrukturen aufkrusten und eingefahrene Sehrezeptionen verfragen und hinterstören.

 

Schon jetzt, im Vorfeld, schlägt die kasselische Kunstmesse hohe Wellen, sogar im Ausland! Aus New York, Nizza, Riad, Marbella und dem Grunewald werden Kunstfreunde aus aller Welt erwartet, die alles kaufen wollen, was farbig und teuer ist. Es liegen bereits Anfragen aus Moskau vor, das Fridericianum samt Gartengrundstück zu erwerben, Abu Dhabi möchte für dreißig Jahre das Nutzungs­recht an den Markennamen »documenta«, »Kaßler« und »Hessisch Sibirien« leasen, und japanische Kunstfreunde wollen das ­gesamte Ausstellungsareal fotografieren und zuhause als Billigkopie nachbauen und mit neuartigen Schamhaarautomaten ausstatten.

 

Es gibt Kaufanfragen aus aller Welt für Werke von Daniel Richter, Gerhard Richter, Ilja Richter und dem neuerdings vor allem im deutschen Süden wieder hochgehandelten Marinerichter Filbinger, dessen graphisches Werk sich aber nur bei einigen Unterschriften nachweisen läßt. Die nicht mehr ganz so hochgehandelten Künstler Kiefer, Polke, Base­litz und Dürer sollen evtl. auf Wühl­tischen verkloppt werden, aber das ist reine Spekulation, denn was in Kassel wirklich zu sehen sein wird, daraus macht Ausstellungschef ­Roger Martin Buergel ein süßes Geheimnis.

 

Insgesamt, so schätzen Experten, wird im Kasselanischen »Museum der 100 Tage« Kunst im Wert von mindestens 228 Millionen Euro zu sehen sein.

 

Voraussichtlich werden groß- und mittelformatige Bilder, unförmige, längliche Plastiken aus Verbundwerkstoffen, Flachbildschirme mit verwackelten Videos, wo einer schreit oder zittert, zu sehen sein, auch Klangskulpturen sind denkbar, ferner von globalisierungs­gebeutelten Negern zusammengeleimte Mobiles mit rätselhaften Motiven, ­zentnerschwere Raumverbraucher aus nordamerikanischer Fertigung, eine begehbare Schrott­skulptur, eine barrierefreie Behindertentoilette, die aber gar keine ist, sondern eine ­täuschend echte Replik, wo man dann seinen eigenen Standort hinterfragen muß, außerdem sehen wir verstörende Assemblagen, Collagen und Potpourris von ihrer ursprünglichen Funktion beraubten Gebrauchsgegenständen, einen schlafenden ­Museums­wärter aus glasfaserverstärktem Kunststoff, ein Tryptichon mit zwei fehlenden Bildern zum Preis von einem, ein herausgemeißeltes Graffito, das von einem sozialen Brennpunkt dieser Erde stammt, einen Farbfernseher, eine Trockenhaube und ein Fragezeichen, und dann noch ein Fabergé-Ei von Franklin Mint mit einer süßen Katze drauf, es ist hochwertig verarbeitet, ein bleibender Wert, man kann jederzeit Verwandte und Freunde damit beeindrucken.

 

Das Zauberwort der diesjährigen Saison lautet jedenfalls: Skulptur. Die Skulptur ist nämlich absolut im Kommen, diese ganzen konkret gemalten Bilder von isolierten Menschen sind ja mittlerweile viel zu teuer. Und längst ist die Skulptur nicht mehr »das, wo­r­über man stolpert, wenn man von einem Gemälde zurücktritt«, wie es der amerikanische Maler Ad Reinhardt einmal formulierte, sondern das, was man kauft, wenn alle anderen es auch halbwegs preiswert kaufen, bevor es dann zu teuer wird.

 

Weil die Stadt Kassel mit all ihren Schlössern, Museen und Hallen zuwenig Ausstellungs­fläche bietet, hat Buergel im Garten des ­Fridericianums ein gigantisches Gewächshaus errichten lassen, den sog. »Aue-Pavillon«, in dem es nach Auskunft der Zeit auch »Palmeninseln« geben wird, denn dort drinnen gehe es um nichts weniger als eine neue »Ethik des Miteinanders«.

 

Das wird uns bevorstehen, denn obwohl die Architekten die Wände gerne aus einer »leichten, gazehaften Membran« gefertigt hätten, um herauszufinden, ob es neben dem ohnehin ­virulenten weichen Keks auch einen »weichen Raum« geben könne, einen »offenen, sozialen Raum« freilich, in den jeder nachts reinspazieren und gegen die Kunst schiffen kann, hat die künstlerische Leitung dies aus Sicherheitsgründen untersagt. Nun sagen die Architekten, wie die FAZ sich schon freut, ein »Desaster durch die Massen an schwitzenden Leuten«, eine »Gefängnisatmosphäre« voraus und beklagen, daß man mit diesen festen Wänden ja schon »wieder im System der Galerien und Banken« gelandet sei.

 

Da jedoch traditionell pro documenta mindestens ein Großkunstwerk im Kataster Kassels verbleibt, befürchtet man schon jetzt die anschließende baurechtliche Umwidmung der Gewächshäuser zu einem überdachten Parkplatz. Wenn man sich aber doch noch zu ­»weichen Wänden« entschlösse, könnte Kassel schon im Herbst mit dem größten barierre­freien Behindertenpissoir nördlich der Alpen auf­warten, was dem darniederliegenden Kasse­l­aner Städtetourismus interessante neue ­Attraktivitätsmodule verschaffen könnte.

 

Ob die zwölfte Kasselinische documenta ein voller Erfolg wird, ein Debakel oder nur ein Etappensieg auf dem Weg vom Faden zum Strick – das ist so unsicher wie das Amen in der Moschee. Sicher ist nur: Am Sonntag, dem 23. September, ist Schluß. Und am Montag, dem 24. September, – auch das eine Neuerung – werden sämtliche Werke, die keinen Abnehmer gefunden haben, zum halben Preis verramscht. Schnäppchenjäger aufgepaßt!

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Briefe an die Leser

 Hej, Gifflar!

Du bist das Zimtgebäck eines schwedischen Backwarenherstellers und möchtest mit einer Plakatkampagne den deutschen Markt aufrollen. Doch so sehr wir es begrüßen, wenn nicht mehr allein Köttbullar, Surströmming und Ikeas Hotdogs die schwedische Küche repräsentieren, so tief bedauern wir, dass Du mit Deinem Slogan alte Klischees reproduzierst: »Eine Schnecke voll Glück«? Willst Du denn für alle Ewigkeiten dem Stereotyp der schwedischen Langsamkeit hinterherkriechen? Als regierten dort immer noch Sozialdemokraten, Volvo und Schwedenpornos?

Damit wirst Du nie der Lieblingssnack der Metropolenjugend!

Sagen Dir Deine Zimt- und Zuckerschnecken von Titanic

 Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Vielen Dank, Claudia Schiffer!

Die Bunte zitiert Sie mit der Aussage: »Um zu überleben, muss man gesund sein, und wenn man am gesündesten ist, sieht man einfach auch am jüngsten aus!« Gut, dass Sie diese Erkenntnis an uns weitergeben!

Geht jetzt zur Sicherheit bei jeder neuen Falte, Cellulitedelle und grauen Strähne zum Arzt:

Ihre greise Redaktion der Titanic

 Ach, Scheuer-Andi,

wie der Spiegel meldet, wird niemand für Sie in den Bundestag nachrücken. Da scheinen die Fußstapfen wohl einfach zu groß zu sein.

Die Besten gehen immer zu früh …

Weiß Titanic

 Hä, »Spiegel«?

»Aber gesund machen wird diese Legalisierung niemanden!« schreibst Du in einem Kommentar zum neuen Cannabisgesetz. »Ach, echt nicht?« fragen wir uns da verblüfft. Wir waren bisher fest vom Gegenteil überzeugt. Immerhin haben Kiffer/innen oft sehr gute feinmotorische Fähigkeiten, einen gesunden Appetit und ärgern sich selten. Hinzu kommen die unzähligen Reggaesongs, in denen das Kiffgras als »Healing of the Nation« bezeichnet wird. All dies willst Du nun tatsächlich infrage stellen? Da lieber noch mal ganz in Ruhe drüber nachdenken!

Empfehlen Deine Blättchenfreund/innen von Titanic

 Aha bzw. aua, Voltaren!

Das wussten wir gar nicht, was da in Deiner Anzeige steht: »Ein Lächeln ist oft eine Maske, die 1 von 3 Personen aufsetzt, um Schmerzen zu verbergen. Lass uns helfen. Voltaren.«

Mal von der Frage abgesehen, wie Du auf die 1 von 3 Personen kommst, ist es natürlich toll, dass Du offenbar eine Salbe entwickelt hast, die das Lächeln verschwinden lässt und den Schmerz zum Vorschein bringt!

Gratuliert salbungsvoll: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Tödliche Pilzgerichte (1/1)

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