Inhalt der Printausgabe

Die Aufsteigerin

Ihr Vater will lieber eine Tochter, ihre Schulkameraden jemanden, der nicht immer beim Verstecken gewinnt, und als sie Bundesumweltministerin wird, schlägt die Natur mit Katastrophen zurück (Jahrhundertflut an der Oder, Ölpest in der Nordsee-Pipeline, Smogalarm im Kanzlerklo). Doch Angela Merkel geht stets ihren Weg: vom Mauerblümchen zur Einheitshecke, von der FDJ zur CDU, von der Kohlentsorgung zur Kanzlerkandidatur.
Alle Hindernisse umstolpert sie gelassen: Als im Wahlkampf ihr Schattenwirtschaftler Paul Kirchhof erklärt, daß menschliches Leid ihn wuschig mache und er flächendeckend Kindern den Kakao versalzen wolle, muß sich Merkel distanzieren. Doch ansonsten läßt sich die scharfsinnige Physikerin kein Gammaneutron für ein Grammophon vormachen, weiß, wie man zwei plus zwei dividiert und lernt schnell aus Fehlern. In diesem Fall, daß sie recht hat, egal was die anderen sagen, und es immer einen Trottel gibt, neben dem sie vernünftig wirkt.

Die Siegerin

Am 22. November 2005 wird Angela Merkel vom 16. Bundestag unauffällig zur Kanzlerin gewählt. »Beschränkt regierungsfähig – lange wird sie es nicht machen«, schreibt der Spiegel, Josef Joffe in der Zeit: »In der Wahlperiode war sie nichts weiter als eine unbedeutende Zwischenblutung, jetzt regelt Alexandra Merkel die Regierungsgeschäfte. Ich werde mir jedenfalls nicht die Mühe machen, mir ihren Namen zu merken.« Die FAZ meldet: »Irgend jemand Neues im Kanzleramt«, und die SZ: »Brotpreise in Tadschikistan stabil«. Dabei ist Angela Merkel ein multiprimäres Politphänomen: die erste Kanzlerin, die jüngste, die erste Naturwissenschaftlerin, die erste Nichtalkoholikerin seit Gerhard Schröder.
Zwei Monate zuvor hatte sie am Wahlabend in der sogenannten Rüsselrunde ihren Mann gestanden: Tapfer lächelte sie die unangenehme Atmosphäre weg, als Nochkanzler Schröder sie etwas ungalant als »superhäßliche Vollschabracke, bei deren Anblick man sich Augenkrebs wünscht« bezeichnet und nicht glauben will, daß »das Kapital solch eine Valiumstute ans Ruder läßt«. Doch es läßt – und den Schröder unauffällig verschwinden (Rußland). Als erste Amtshandlung beseitigt Merkel die letzten Reste des Schröderschen Wirkens, montiert das abgenutzte Pissoir neben dem Schnapsschrank im Kanzlerbüro ab und kauft neue Gardinen in ihrer Lieblingsfarbe (Herbst). Sie gilt fortan als erholsam unspektakulär.

Die Machtmaschine

Wirkt Merkel äußerlich wie ein angefahrenes Reh, so ist sie doch robust wie ein abgenutztes Muli. Als erster bekommt das Edmund Stoiber zu spüren: Als er sein Konzept für das Wirtschaftsministerium vorstellt, verhaspelt er sich derart, daß er aus Versehen seinen Rückzug erklärt. Merkel läßt Stoiber nach einer taktischen Pause in den Brüssel-Gulag verbannen. Niemand hört danach noch etwas von ihm. Er bleibt nicht der einzige: Die Liste ihrer Opfer ist langweilig und liest sich wie das Who's who again der deutschen Politelite – ganz oben steht dieser eine SPD-Minister oder Fraktionschef.
Merkels Führungsstil erweist sich als eigentümlich effizient: Sie ist penetrant zurückhaltend, radikal unaufgeregt, beeindruckend unbeeindruckt und kompromißlos pragmatisch. Das Forbes Magazine erklärt sie mehrfach zur mächtigsten Frau der Welt, Time zum »Oxymoron of the Year«. In Deutschland wird die »feminine Onkelhaftigkeit der Volkstante« zum geflügelten Wort.

Die Krisenmeisterin

Ob Ministerpräsidenten reihenweise flüchten, die internationalen Finanzmärkte einbrechen oder Wolfgang Schäuble in einer Marathonsitzung die Wundsalbe ausgeht – Angela Merkels Reaktion ist immer gleich: erst mal ein Nickerchen, dann nachsehen, ob noch was getan werden muß, eventuell irgend etwas tun. Krisen sind für Angela Merkel pure Lebenslust: Ihr Lieblingsland ist Nahost, ihre Lieblingsblume die Krisantheme, ihre Lieblingskrise das Klima. Um das prickelnde Klimakrisengefühl möglichst intensiv auszukosten, entwickelt sie eine ausgeklügelte Strategie: Sie gibt alles dafür, von der Presse als »Klimakanzlerin« bezeichnet zu werden, und veranlaßt nichts, um die Krise zu bekämpfen. Ihr Meisterstück ist aber die Regierungsbildung mit der FDP. In den Koalitionsverhandlungen setzt sie »Krisensicherheit« als Leitmotiv durch und wird von ihrem Kabinett reichlich entlohnt: Allein Guido Westerwelle erscheint als professionelles Krisenmodell auf mehr als hundert Covern.

Die Repräsentantin

Der Welt präsentiert sich Merkel gerne auch mal neckisch: Während der WM 2006 ersetzt sie spontan den Zottel-Löwen Goleo und tanzt fortan bei jedem wichtigen Fußballspiel für die Massen, bei einem G8-Gipfel begrapscht sie mit ihrem Nacken kokett George Bushs Hände. Bei solchen Gelegenheiten trägt sie auch mal einen hellmatten Herbstblouson und schminkt sich die Lippen zutage.
Doch sind das nur Spiele für die Kameras. In Wirklichkeit ist Angela Merkel das, was ihr Land und ihre Bürger verdienen: ein robustes Herbstzeitgebilde, Sinnbild für unaufhaltsames Dahinwelken. Ihre Lefzen fallen wie das Laub, ihr Haar gleicht entkleidetem Gestrüpp, ihre Gesichtszüge sind gesättigt von der Anmut der Verwesung. Angela Merkel ist eine Frau, mit der man sich bei einer Runde Rotwein und Scrabble nicht allzu sehr langweilen dürfte, mit der man sich auf jeder Beerdigung blicken lassen kann. Sie regiert dieses Land, weil sie ein kleines bißchen weniger wahnsinnig ist als der Rest derer, die das wollen. Daß sie dies seit bereits fünf Jahren darf, sagt mehr über die Regierten als über sie selbst.

Merkels Kanzlerschaft im Schnellvergleich

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Fazit: Merkel ist nicht ganz so gut wie Hitler, aber wesentlich besser als Schröder.

 

Tim Wolff

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Briefe an die Leser

 Gute Frage, liebe »Süddeutsche«!

»Warum haben wir so viele Dinge und horten ständig weiter? Und wie wird man diese Gier wieder los?« teast Du Dein Magazin an, dasselbe, das einzig und allein als werbefreundliches Vierfarb-Umfeld für teuren Schnickschnack da ist.

Aber löblich, dass Du dieses für Dich ja heißeste aller Eisen anpackst und im Heft empfiehlst: »Man kann dem Kaufimpuls besser widerstehen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Wer will, dass ich das haben will?«

Und das weiß niemand besser als Du und die Impulskundschaft von Titanic

 Wir wollten, »SZ«,

nur mal schnell Deine Frage »Gedenkbäume absägen. Hinweistafeln mit Hakenkreuzen beschmieren. Wer macht sowas?« beantworten: Nazis.

Für mehr investigative Recherchen wende Dich immer gerne an Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

 Helen Fares, c/o »SWR« (bitte nachsenden)!

Sie waren Moderatorin des Digital-Formats MixTalk und sind es nun nicht mehr, nachdem Sie ein launiges kleines Video veröffentlicht haben, in dem Sie zum Boykott israelischer Produkte aufriefen, mit Hilfe einer eigens dafür programmierten App, die zielsicher anzeigt, wo es in deutschen Supermärkten noch immer verjudet zugeht (Eigenwerbung: »Hier kannst Du sehen, ob das Produkt in Deiner Hand das Töten von Kindern in Palästina unterstützt oder nicht«).

Nach Ihrem Rauswurf verteidigten Sie sich in einem weiteren Video auf Instagram: »Wir sind nicht antisemitisch, weil wir es boykottieren, Produkte von Unternehmen zu kaufen, die Israel unterstützen. Ein Land, das sich vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Genozid verantworten muss, weil es Zehntausende von Menschen abgeschlachtet hat.« Da sich aber auch Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum Genozid verantworten muss, war Ihre Kündigung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ja ohnehin einvernehmlich, oder?

Kann es sich nicht anders vorstellen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Gebt ihnen einen Lebenszyklus!

Künstliche Pflanzen täuschen mir immer gekonnter Natürlichkeit vor. Was ihnen da aber noch fehlt, ist die Fähigkeit zu verwelken. Mein Vorschlag: Plastikpflanzen in verschiedenen Welkstadien, damit man sich das Naserümpfen der Gäste erspart und weiterhin nur dafür belächelt wird, dass man alle seine Zöglinge sterben lässt.

Michael Höfler

 Back to Metal

Wer billig kauft, kauft dreimal: Gerade ist mir beim zweiten Sparschäler innerhalb von 14 Tagen die bewegliche Klinge aus ihrer Plastikaufhängung gebrochen. Wer Sparschäler aus Kunststoff kauft, spart also am falschen Ende, nämlich am oberen!

Mark-Stefan Tietze

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
02.05.2024 Dresden, Schauburg Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
03.05.2024 Mettingen, Schultenhof Thomas Gsella
03.05.2024 Stuttgart, Im Wizemann Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
04.05.2024 Gütersloh, Die Weberei Thomas Gsella