Inhalt der Printausgabe

Dienstag, 29. Juni 2010

15:00 Uhr Die außerplanmäßige Bundesversammlung steht bevor. Nachdem Horst Köhler in kurzen Abständen redselig und amtsmüde ge­­worden ist, wird nun der von Angela Merkel aus­gesuchte Ersatz Christian Wulff ins Amt gebracht. Daß dieser Ausgang feststeht, mißfällt Presse­leuten, weshalb sie den Gegenkandidaten Joachim Gauck von Bild  bis Spiegel (»Der bessere Präsident«) als ernsthafte Konkurrenz präsen­tieren – sonst wären ja die schönen Fernsehüber­tragungen und Live-Ticker umsonst.
Schon bei der Wahl Köhlers 2009 war alles so vorhersehbar, daß Schriftführerin Julia Klöckner ganz selbstverständlich das Ergebnis des
1. Wahlgangs vorab über den Internetdienst »Twitter« verbreitete. Das immerhin ergab einen kleinen Skandal. Dieses Mal möchte Versammlungsleiter Norbert Lammert ähnliche Vorfälle vermeiden. Er spricht ein »Twitter-Verbot« aus, ermahnt die Schriftführer und versteckt die Glückwunschblumen samt Kapelle, die damals etwas zu früh auftauchten, irgendwo im Keller.
Trotzdem lauern alle Medien sehnsüchtig auf ein neues Leck. Auch die TITANIC-Redaktion befürchtet große Langeweile, will sich aber in Sachen Indiskretion nicht auf andere verlassen. Lieber schickt sie eine eigene Korrespondentin, die für exklusive Vorabinformationen sorgen soll: die Schauspielerin Martina Gedeck. Sie ist Wahlfrau der Grünen und seit heute, ohne es zu wissen, Besitzerin eines nagelneuen Twitter-Accounts – dank TITANIC! Dort präsentiert sie sich ihren Anhängern als Frau mit weitläufigen Interessen und klarem Urteilsvermögen:

19:09 Uhr »Die Abkürzung KFZ steht auch für kubisch flächenzentrierte Kristallstruktur. Wahnsinn!«
19:28 Uhr »Oberbommert wurde erstmals 1480 urkundlich erwähnt, danach aber nie, nie wieder. Ausnahme: hier, heute, jetzt :D«
19:35 Uhr »Hat mir mein Pfarrer erzählt: 1095 fand die Synode von Clermont unter Papst Urban II. statt. Der I. war angeblich verhindert.«
19:42 Uhr »Ich finde ja, ›Doctor Occult‹ wird immer schlechter. Inzwischen kauf ich mir das Heft nur noch wegen der Gimmicks!«
20:16 Uhr »Ein Grain ist ein Elementarklang mit einer Dauer von 5 bis 20 ms. Ungefähr so: aaaaaaaaaaah. O, zu lang. So: iiiiiih. Oder was in der Mitte.«

Noch sind es nur drei Anhänger, die vom Wikipedia-Wissen unserer Frau Gedeck  profitieren – allesamt Mitarbeiter der TITANIC. Ihnen teilt sie zur Nacht noch mit, froh zu sein, daß Deutschland morgen einen neuen Präsidenten hat.

Mittwoch, 30. Juni 2010

12:00 Uhr Norbert Lammert eröffnet die Bundesversammlung. Die TITANIC-Redaktion sieht die Übertragung auf »Phoenix« und sucht nach ihrer Korrespondentin. Schon am Morgen hatte unsere Frau Gedeck über ihr herzhaftes Frühstück informiert – »via mobile web«, wie ­Twitter automatisiert anfügt. Jetzt, da sie im Reichstag sitzt, kommentiert sie »via web« die Eröffnungsrede; immerhin komplett in handytypischer Kleinschreibung. Diese Martina Gedeck ist eine komplexe, wenn nicht gar widersprüchliche Person.
12:33 Uhr Der erste Wahlgang hat begonnen. Gedeck meldet: »ok das war einfach - rein in die box. die schriftführin hat meinen namen falsch ausgesprochen«. Mittlerweile hat sie über 30 Anhänger – vorwiegend aus Frankfurt.
12:38 Uhr Im Reichstag herrscht großes Getümmel, mittendrin ist auch das rote Kleid Martina Gedecks zu sehen. Die aufgerufenen Wahl­männer holen sich ihre Stimmzettel und begegnen auf dem Weg zur Kabine jenen, die sie gerade eingeworfen haben. Anscheinend trifft G auf M: »soll ich merkel ansprechen?« Dieser Tweet ist der erste, der mit dem »Tag« #bundesversammlung versehen ist. Damit gibt Gedeck ihren Nachrichten den Status »offizielle journalistische Quelle«.
13:41 Uhr Der 1. Wahlgang ist beendet, Lammert hat die Erlaubnis zum Beinevertreten gegeben. Seit der vollen Stunde hat sich Martina Gedeck nicht gemeldet. Die Redakteure in Frankfurt sind aufgeregt: Weiß die Schauspielerin überhaupt, von wem sie das Ergebnis erfahren könnte? Die Schriftführer fallen aufgrund der Vorgeschichte aus. Auch das Erspähen von Glückwunschblumen und Kapelle kommt nicht in Frage.  Aber seinem Justizminister Bernd Busemann könnte Christian Wulff doch wohl etwas verraten, sobald er das Ergebnis erfährt. Ob ­Martina zufällig auf Busemann trifft?

13:42 Uhr »ok busemann (cdu) hat ne sms bekommen leute :) also kein zweiter wahlgang«.

13:43 Uhr In Berlin werden die Stimmen gezählt, in Frankfurt »Retweets«. Martina Gedeck wird immer beliebter, die Zahl ihrer Follower steigt rapide, während sie bereits ein erstes Resümee zieht: »schade drum, war aber (leider) klar – #gauck wäre ein guter präsident gewesen«.
13:49 Uhr Im Reichstag drängen sich die Stimmberechtigten von einem TV-Interview zum nächsten. Niemand scheint zu wissen, daß die Entscheidung bereits gefallen ist. Nur Frau Gedeck blickt hinter die Kulissen: »alle lassen sich mit wulff fotografieren peinlich«.
Allerdings scheinen mittlerweile auch andere Twitterer ziemlich genau Bescheid zu wissen, z.B. die »Jusos Greiz«. Es ­kursieren sogar konkrete Ergebniszahlen. Das erscheint der Redaktion unseriös – unsere ­Martina Gedeck kennt jedenfalls keine. Daß bereits alles entschieden ist, glaubt man aber mehr denn je, schließlich steht es jetzt im Liveticker der ­Financial Times Deutschland.

<i>Taz.de</i>

13:50 Uhr Während in Berlin noch so getan wird, als zählte man Stimmen, wird Gedeck nun auch bei der Taz zitiert. Die FAZ meldet: »Twitter: Wulff im 1. Wahlgang gewählt«
13:51 Uhr Jetzt erscheint Gedecks Exklusiv­information u.a. bei der Nachrichtenagentur »ddp« und Regionalzeitungen wie dem Donaukurier oder der Allgemeinen Zeitung (Uelzen).
14:05 Uhr Die Welt informiert ihre Leser über das Ergebnis. Es stamme von »Martina Gedeck, Wahlfrau für die SPD«. In Frankfurt wird gerätselt: Hat die Delegierte der Grünen eine weitere Doppel­gängerin?
14:10 Uhr Die echte Martina Gedeck wird bei »Phoenix« interviewt, die Redakteure starren gebannt auf den Bildschirm. Wird sie dem Fernsehpublikum verraten, was Internetnutzer bereits wissen? Wird sie winken? Da sie der »Phoenix«-Mann auf Belanglosigkeiten anspricht, wird der Wissensvorsprung der mittlerweile über 600 Follower nicht gefährdet. Kurz danach meldet sie bei uns: »phoenix hat mich grad interviewt«. Vorher war sie bereits bei der ARD am Mikrophon. Dort hatte Ulrich Deppendorf auch über Vorhersagen aus dem »Twitternetz« berichtet – ohne aber Gedeck auf ihre Kurzmitteilungen anzusprechen.  
14:15 Uhr Martina Gedeck steht fast so doof da wie Angela Merkel: Christian Wulff erhält im ersten Wahlgang nicht die nötige Mehrheit. Jetzt zweifelt auch der Spiegel und berichtet über einen »mutmaßlichen Fake, geschickt gemacht«. Der Stern wird unverschämt: »Urheber der Nachricht ist ein ganz offensichtlicher Fake-Account der Schauspielerin Martina Gedeck.«
14:21 Uhr Frau Gedeck gesteht ein: »tja doch nicht alles so eindeutig«
14:30 Uhr Der Agent der echten Martina Gedeck und der Grünen-Pressesprecher wollen bei ihr nachfragen, was genau los sei – erreichen sie aber nicht, weil sie ihr Handy nicht dabeihat.
15:03 Uhr Während in der Bundesversammlung der 2. Wahlgang vorbereitet wird, nimmt sich die TITANIC-Wahlfrau ihren Glaubwürdigkeitsverlust so zu Herzen, daß sie wunderlich wird: »ein tag voller überraschungen: gauck im zweiten wahlgang, fussel im kaffee :)«

15:10 Uhr »irgendwie tut mir wulff leid. er wirkt wie ein geprügelter koala«
15:13 Uhr »habe mir eine blase gelaufen - hoffentlich kann ich am 2ten wahlgang teilnehmen ;)«

15:20 Uhr Bild meldet auf der Startseite: »Martina Gedeck sorgt für Twitter-Alarm«. Ist ihre Glaubwürdigkeit wiederhergestellt? Zumindest werden ihre Mitteilungen wieder seriöser.

<i>Bild.de</i>

16:00 Uhr Auch Bild scheint eine Schmerzgrenze bei der Verbreitung von zweifelhaften Inhalten zu haben – und ein Fussel im Kaffee scheint darüber hinauszugehen. Nun heißt es plötzlich »Twitter-Alarm wegen Martina Gedeck?« und kurz darauf »Twitter-Wirbel um Martina Gedeck«.
16:30 Uhr Dieser neue Vertrauensverlust bringt Martina Gedeck endgültig aus der Fassung. Trotzdem kommentiert sie für ihre Anhänger das Berliner Geschehen bis zum Ende.

16:48 Uhr »Pst, Geständnis: hätte mich fast verwählt ;) liegt wohl am kleinen Prosecco, den ich mir mit Sönke gegönnt habe«
17:08 Uhr »Haha! Wulff fällt nochmal durch. Wie Göring damals, als er nicht Reichstagspräsident wurde. Ätsch!«
17:29 Uhr »Jetzt wirds knapp, einen dritten wahlgang hatte ich gar nicht eingeplant. muss heute noch drehen!«
18:14 Uhr »Gleich kommt der dritte Wahlgang! Wenn die NPD diesmal mitzieht, kriegt Gauck drei Stimmen mehr!«
19:37 Uhr »Oh no, jetzt wo ich Frau Joachimson wählen wollte, steht sie nicht mehr auf dem Wahlzettel!«
21:21 Uhr »Wulff gewinnt! Habe ich doch gleich gesagt…aber wer hört denn schon auf mich? Ich meine, außer Bild.de? :)«

Was danach geschah

Der »ddp« ist sauer und berichtet vom »alltäglichen Übel Identitätsklau«. Auch der WAZ -Mediengruppe ist die Kompetenz ihrer eigenen Berichterstatter egal. Lieber beklagt sie auf ihrem Internetportal »derwesten.de« den geringen Schutz vor ­»falschen Twitterern« und empfiehlt juristische Schritte. Bei der TITANIC gehen zwar weiter Tweets von Martina Gedeck ein, persönlich oder über ihren Anwalt meldet sie sich aber nicht.
Auch die am Wahltag so mitteilungs­freudigen FAZ und Bild schweigen. Nur der ­Spiegel und der Stern berichten über genarrte Kollegen, beim Stern zumindest nicht ohne ­Mitgefühl: »Häme ist bei diesen Fehlern nicht angebracht – kein Journalist kann sagen, ob er nicht schon morgen einem phantastischen Fake aufsitzt.« Oder ob er zwei Minuten Zeit zur Recherche findet.

Tim Wolff

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Könnte es sein, »ARD-Deutschlandtrend«,

dass Dein Umfrageergebnis »Mehrheit sieht den Frieden in Europa bedroht« damit zusammenhängt, dass seit über zwei Jahren ein Krieg in Europa stattfindet?

Nur so eine Vermutung von Titanic

 Du, »Hörzu Wissen«,

weißt, wie Werbung geht! Mit »Die Sucht zu töten« machtest Du so richtig Lust auf Deine aktuelle Ausgabe, um erläuternd nachzulegen: »Bestialisch, sadistisch, rätselhaft: Was Menschen zu mordenden Monstern macht – acht Täter und die Geschichten ihrer grausamen Verbrechen.«

Wer kann sich da der Faszination der »dunklen Welt der Serienkiller« noch entziehen? Aber am Ende, liebe Hörzu Wissen, ist in diesem Zusammenhang doch die Implikation Deines Slogans »Hörzu Wissen – das Magazin, das schlauer macht!« das Allergruseligste!

Da erschauert sogar

Die True-Crime-resistente Redaktion der Titanic

 Warum, Internet?

Täglich ermöglichst Du Meldungen wie diese: »›Problematisch‹: Autofahrern droht Spritpreis-Hammer – ADAC beobachtet Teuer-Trend« (infranken.de).

Warum greifst Du da nicht ein? Du kennst doch jene Unsichtbar-Hand, die alles zum Kapitalismus-Besten regelt? Du weißt doch selbst davon zu berichten, dass Millionen Auto-Süchtige mit Dauer-Brummbrumm in ihren Monster-Karren Städte und Länder terrorisieren und zum Klima-Garaus beitragen? Und eine Lobby-Organisation für Immer-Mehr-Verbrauch Höher-Preise erst verursacht?

Wo genau ist eigentlich das Verständlich-Problem?

Rätselt Deine alte Skeptisch-Tante Titanic

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

 Hello, Grant Shapps (britischer Verteidigungsminister)!

Eine düstere Zukunft haben Sie in einem Gastbeitrag für den Telegraph zum 75jährigen Bestehen der Nato skizziert. Sie sehen eine neue Vorkriegszeit gekommen, da sich derzeit Mächte wie China, Russland, Iran und Nordkorea verbündeten, um die westlichen Demokratien zu schwächen. Dagegen hülfen lediglich eine Stärkung des Militärbündnisses, die weitere Unterstützung der Ukraine und Investitionen in Rüstungsgüter und Munition. Eindringlich mahnten Sie: »Wir können uns nicht erlauben, Russisch Roulette mit unserer Zukunft zu spielen.«

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass es beim Russisch Roulette umso besser fürs eigene Wohlergehen ist, je weniger Munition im Spiel ist und Patronen sich in der Trommel befinden.

Den Revolver überhaupt vom eigenen Kopf fernhalten, empfehlen Ihre Croupiers von der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Gebt ihnen einen Lebenszyklus!

Künstliche Pflanzen täuschen mir immer gekonnter Natürlichkeit vor. Was ihnen da aber noch fehlt, ist die Fähigkeit zu verwelken. Mein Vorschlag: Plastikpflanzen in verschiedenen Welkstadien, damit man sich das Naserümpfen der Gäste erspart und weiterhin nur dafür belächelt wird, dass man alle seine Zöglinge sterben lässt.

Michael Höfler

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
18.05.2024 Wien, Rabenhoftheater Max Goldt
23.05.2024 Bielefeld, Theaterlabor Max Goldt
24.05.2024 Dresden, Buchladen Tante Leuk Thomas Gsella
30.05.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst »POLO«