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Rolle rückwärts
Bei Aldi Süd sind neue, wenig zukunftsweisende Einkaufswagen am Start. Warum sich der Discounter für die "Alditimer" entschieden hat, beleuchtet TITANIC – mit Neonlicht – auf einer exklusiven ersten Testfahrt.
An einem feinmilden Frühlingstag im April steht er auf dem Parkplatz eines wie aus dem Bio-Ei gepellt aussehenden Aldi-Süd-Marktes am Stadtrand von Billigheim-Bissingen vor uns. Stolz präsentiert uns der Marktleiter, Herr Waldemar Oettle, den Prototyp des neuen Einkaufswagens des Discounter-Primus aus Mülheim an der Ruhr, in diesem Moment noch verhüllt von einer XXL-Plastiktüte mit dem Logo des Konzerns. Gespannt wie ein kleines Kind vor der Bescherung, nehmen wir voll knisternder Spannung die Abdeckhaube herunter. Der erste Eindruck ist jedoch ernüchternd wie ein Sixpack Bier der Marke "Karlskrone Alkoholfrei". Dieser rollende Warenkäfig harmoniert mit seinen hellgrünen Plastikapplikationen zwar ganz hervorragend mit dem Frische-Angebot an Blättern, der die Asphaltwüste mit Kaufhalle darauf umsäumenden Bäume, mutet aber sonst eher wie ein Rückfall vom Elektroautozeitalter in das der Pferdefuhrwerke an. So sucht man das breite Armaturenbrett mit Einkaufsradio, Sparblinkanlage und Preiskrachometer vergeblich. Gelenkt wird wieder mit dem altbackenen Griffrohr, auch "Saftschubse" genannt. Bei Aldi Süd scheint man die Uhren analog zu den Preisen rückwärts gedreht zu haben, ein "Discountdown" sozusagen. Das neue "H"-Kennzeichen, für "länger haltbar" an Front- wie Stirnseite des Chrommonsters ist somit nur konsequent.
Man fragt sich natürlich: Wo ist der Haken bei der Sache? Nirgends, denn noch etwas fällt auf an diesen in jeder Hinsicht eigentlich komplett unauffälligen Konsumkarren: Vorne fehlt der klassische Taschenhaken aus Plastik. Die hässliche braune Kunstledertasche aus Omas Zeiten, die hier früher immer zu hängen pflegte, ist genauso schwer, wie sie immer geladen war und auch aus der Mode gekommen. Kein Wunder, wo doch selbst Hipster sich nicht mehr zu Tode schämen (schade), mit dem Hackenporsche im Supermarkt herumzucruisen. Die dort angebrachten Einkaufsbehältnisse dienten früher meist als "Airbag", wenn die Kunden montags und donnerstags beim Eintreffen einer begehrten Aktionsware, wie etwa dem Aldi-PC, mit den Wagen durch die Gänge rasten und sich gegenseitig abdrängten. Der nun wieder ganz überwiegend aus Stahl gefertigte Trolley wirkt wieder so stabil wie die Niedrigpreise für die zuliefernden Milchbauern.
Jetzt geht es aber endlich los! Wir heben unsere beiden Testpilotinnen (Penny (3,99 Jahre) und Norma (2,77 Jahre), die an der Kasse vom gegenüberliegenden Lidl abgegeben worden waren, in den Kindersitz, der jetzt auch zur Ablage von Obst, Gemüse oder Fruchtzwergen genutzt werden kann und sparen los. Doch irgendetwas stimmt nicht, denn der Wagen lässt sich nur sehr schwer über das Pflaster schieben, in das wir jetzt eine Schmalspurstraßenbahnschiene eingefräßt haben. Für den so entstandenen Schaden müssten wir nach Aussage des Filialleiters Oettle "selbstverständlich" aufkommen, habe doch der Konzern, typisch Aldi!, sich die Kosten für eine Haftpflichtversicherung für die neuen "Firmenwagen" gespart. Doch darauf sind wir schon vorbereitet, begleichen die Schuld mit einem Münzrollcontainer. Endlich bemerken wir den Grund für das Malheur! Laut Warnhinweis auf der Grifflatte, dürfen nur Kinder mit einem Gesamtgewicht von maximal 15 Kilogramm netto, inklusive während des Einkaufs verbotenerweise in sich hineingestopfter Sachen Platz nehmen. Unsere Probanden liegen mit etwa 180 Pfund am Stück etwas darüber.
Im Markt angelangt, legen wir zunächst einen Boxenstopp ein, um uns einen leeren Karton zu greifen. Die Bälger hingegen hieven wir aus dem Kindersitz, stellen sie vorschriftsmäßig auf eine leer gekaufte Europalette, direkt neben der Apfelschorle. Immerhin: Im Laden rollt der Wagen jetzt leichter als das Vorgängermodell. Es wurden mozartkugelgelagerte Rollen mit einer Kunststoff-Schokoladenumantelung (branchenintern auch "Hamsterräder" genannt), die im Supermarkt allerdings durchaus Standard sein sollen, verbaut. Besonders ins Auge springen die auffallend vielen Warnhinweise auf dem Schiebestangespargel, die das Firmenemblem dezent erscheinen lassen. Da findet sich z.B. der Hinweis, keine heiße Butter einzufüllen oder die Pfandbremse vor der Einkaufstour zu lösen.
Während Schickimickimärkte wie Edeka, Rewe und Co. ihren Fuhrpark mit immer mehr Gadgets, wie Handyhalterungen oder Ladestationen für E-Zigaretten, ausstatten, kann man in den Münzschlitz des Retrorollwagens von Aldi Süd jetzt immerhin auch Reichsmark, labbrige Kartoffelchips oder steinharte Jaffakekse aus der Vorwoche einführen. Warum zum Teufel aber tauscht der Discounter nun seine an die Luxuslimousinen der Konkurrenz aufschließenden alten Wagen, gegen diesen in jeder Hinsicht abgefuckt-anachronistischen "Prolley" aus? Der Grund dafür, wie könnte es anders sein, ist so einfach wie die Unternehmensphilosophie der Supermarktkette. Es geht natürlich mal wieder um Einsparungen! Während die meisten Mitbewerber ihre Carrier vom Marktführer Wanzl beziehen, ist man bei Aldi Süd einen ganz anderen, unkonventionellen Weg gegangen und hat einfach geklaute Wagen aus den Chausseegräben der Welt, die von arbeitslosen Metallbauern in mühevoller Kleinarbeit wieder aufgemöbelt worden sind, für einen geringen Obolus angekauft und in Dienst gestellt. Wir schieben den hoffnungslos mit Dosentomaten und Essiggurken im Glas überladenen Testwagen schleunigst zur Kasse, verlassen den Laden, schubsen ihn nach dem Entladen der Ware in den angrenzenden Straßengraben und machen uns vom Acker. Für Nachschub ist also gesorgt!
Burkhard Niehues