TITANIC Gold-Artikel

Quo vadis, Wald?

Deutschland hat ein Problem: Der Wald stirbt. Wo früher kräftige grüne Holzbäume standen, sieht es jetzt verrotteter aus als im Mund von Jürgen Vogel. Die Diagnose: Das Gebagger von RWE war umsonst, der Wald kriegt das Sterben auch selbst hin. Aber wo ist die, pardon, Wurzel für das Problem? Muss die deutsche Seele vielleicht einfach mal zum Zahnarzt? Und wie geht Deutschland mit diesem Verlust um? Eine Suche nach der Lichtung am Ende des Tunnels.

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Leere im Laub

"Chröööööööö! Chröööööööööööhhh!!" Arnold Hiller zu finden, ist nicht schwer, wenn man weiß, dass er im Unterfrankener Wald der einzige "Hirsch" ist, der noch orgelt. Jeden Morgen zieht er mit seinem Rufrohr durch das ausgestorbene Unterholz und röhrt verzweifelt in die Leere hinein, als wäre er der letzte Dinosaurier auf der Suche nach Paarungsgelegenheiten. "Es ist eine Tragödie! Die Hirsche finden nichts mehr zu fressen und ziehen weg!" sagt der 59-Jährige, während er sein Rohr fest umklammert. In seinen hinter dem Tränenschleier leeren Augen sieht man, dass seine Verbindung zu den Tieren eine besonders enge gewesen sein muss. Er führt uns vorbei an verrottenden Stümpfen und erzählt uns, wie das Leben der hornigen Tiere hier mal aussah. Dort hinten sei ein Wasserloch gewesen, hier hätten sich "seine Hirsche" gerne an den Fichten geschubbert und auf einer Lichtung habe er die handzahme Hirschdame "Viola" getroffen. "Hinter diesen warmen braunen Augen steckte eine Seele wie bei einem Menschen, sie war meine beste Freundin", erklärt Hiller mit zitternder Stimme, "natürlich war unsere Beziehung platonisch", schiebt er hastig hinterher und kratzt sich am Schritt. Als wir auf der Lichtung ankommen wird der Tierfreund kurz ganz ruhig und blickt sich sehnsüchtig um, ein leises "Viola" entflieht seinen Lippen. Dann dreht er sich um und bittet uns, ihn jetzt allein zu lassen. Er brauche mal kurz Zeit für sich.

Der Markt regelt

Zumindest offiziell bedauert auch der Falschpflanzenhersteller Meyer-Rutzke (Motto: "Träume ohne Bäume") aus Emmendingen das Waldsterben im nahegelegenen Schwarzwald. In dem Familienbetrieb herrscht geschäftiges Treiben, während im Hintergrund ein fröhlicher Dubstep-Remix von Radioheads "Fake Plastic Trees" läuft. Gerade erst hätten sie zwei studentische Hilfskräfte einstellen müssen, weil sie mit dem Kleben der Kautschukblätter an die Kunststoffäste einfach nicht hinterherkämen, erläutert die Unternehmerin Karin Meyer-Rutzke, die aus Pietätsgründen eine schwarze Trauerbinde um den Oberarm trägt. "Jetzt mal unter uns: Wir haben die Antwort des Markts auf das Waldsterben gefunden und machen jetzt dick Cash, aber drucken sie das bloß nicht ab", jauchzt sie mit gedämpfter Stimme und bekreuzigt sich danach mit einem lauten Seufzen. Ihr Betrieb biete nicht nur die 08/15-Plastik-Yukka-Palme oder falsche Primeln für mittelmäßige Restaurants an, die gebürtige Bötzingerin habe ein patentiertes Steck-System entwickelt, mit dem sich jeder und jede den eigenen auf die individuellen Bedürfnisse angepassten Wald zusammenstellen könne. "Laubwald, Mischwald, Nadelwald – you name it. Das ist wirklich high end shit", begrüßt die gelernte Forstwissenschaftlerin das Ende der Ära echter Wald. Und das beste: Mit dem Rituals-Partnerspray "Waldfreuden" für nur 89,99 Euro könne man die Experience olfaktorisch abrunden. "Und das alles ohne nervige Insekten", zwinkert Meyer-Rutzke, während sie summend ein "Rettet die Bienen"-Plakat ins Fenster hängt.

Der dritte Weg

"Wir sind in einer ökologischen Krise, und der Tod der deutschen Eiche ist nur eines von vielen Anzeichen", sagt Andreas M., Anführer der Anastasia-Bewegung in Brandenburg. Er und seine Kameraden setzen sich für ein Umdenken in Umweltfragen ein: Obst und Gemüse selbst anbauen, keine Pestizide, weniger Autofahren und, ach ja, keine Ausländer. "Alle halten uns für Nazis, aber ich weiß von nichts", sagt der liebevolle Familienvater und Sportschütze, der zeitgleich eine Weltkarte zusammenrollt, auf der man gerade noch erkennen kann, dass er die "Menschenrassen" und ihren Grad der Verwicklung in die "jüdische Weltverschwörung" eingezeichnet hat. Immer würden die Medien ihn und seinen Zirkel auf rechtsnationalistisches und rassistisches Denken reduzieren, dabei wolle er ja nur eine lebenswerte Zukunft für sich und seinen 88-köpfigen Umweltcorps: "Warum denn immer gleich politisch werden wie so ein Jude?" beschwert er sich hirsestampfend. Toll sei, dass die Bewegung Fridays for Future den Finger jetzt mal so richtig in die Wunde lege. Blöd nur, dass "Frau Thunberg" Autistin sei. "Muss so was wirklich sein?" fragt er nostalgisch. An seiner Schläfe sieht man eine Ader pulsieren; die Hirse spritzt durch den hutzelig-deutschtümelnd eingerichteten Bio-Bunker, während Andreas M. versucht, eine Haltung zu Fridays for Future zu finden, die sich und seine "Ideal" vereinbaren kann, und dabei gelegentlich ein sich selbst beruhigendes "Heil Hitler!" hervorpresst. Zeit zu gehen.

Die Forstikative wird es richten

Quo vadis, Wald? Diese Frage stellt sich auch eine deutsche TV-Persönlichkeit, die lieber unerkannt bleiben möchte. "Der Wald lichtet sich ja schlimmer als meine Haare, der Forst ist fort", lacht er, doch hinter diesem frechen Grinsen steckt eine echte Sorge um die Zukunft dieses Landes. In einem Kölner Café fällt die Ironiemaske des Entertainers und Menschen, der oftmals so wirkt, als würde er Deutschland verstehen wie kein zweiter im Business. Der Bundesspaßadler hat verstanden, dass es nicht reicht, wenn die Hipster und Midlife-Crisis-Unternehmer nur noch mit dem E-Scooter durch die Stadt düsen; die Politik sei jetzt verantwortlich. "Wir müssen uns der demokratischen Mittel bedienen, um den Wald zu retten", sagt der Verfassungspatriot, während er ein pathetisch-spaßiges Video ins Internet lädt und flux via Twitter eine Waldrettungsbewegung ins Leben ruft. "Wir können alle etwas machen: Fahrrad fahren, Bäume pflanzen – in die SPD eintreten, hihihi", heißt es in dem Clip, der schnell zum Hit bei Vice und Bento wird. "Ach schau, schon der erste Verriss bei Welt Plus! Das gibt der Sache immer einen schönen Push", freut sich der Aktivist, der das alles natürlich doch irgendwie ironisch macht. Leider habe er nicht viel Zeit für ein Gespräch – wir haben zwischen dem geschäftigen Geschreibe, Getippe und Freuen über die eigene Aktion noch keine einzige Frage stellen können. Er müsse eigentlich direkt zu seinem Anwalt, um ein Rap-Video zu planen, in dem er die Regierung verklagt, weil sie die Klimaziele nicht einhält. "Es lebe die deutsche Demokratie", ruft er noch, während er aus dem Café in Richtung E-Roller eilt. 

Antonia Stille

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

 Bild.de!

»Springer hatte im Januar bundesweit für Entsetzen gesorgt«, zwischentiteltest Du mit einem Mal überraschend selbstreferenziell. Und schriebst weiter: »Nach der Enthüllung des Potsdamer ›Remigrations‹-Treffens von AfD-Politikern und Rechtsextremisten postete Springer: ›Wir werden Ausländer zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimnis. Das ist ein Versprechen.‹« Und: »In Jüterbog wetterte Springer jetzt gegen ›dahergelaufene Messermänner‹ und ›Geld für Radwege in Peru‹«.

Dass es in dem Artikel gar nicht um Dich bzw. den hinter Dir stehenden Arschverlag geht, sondern lediglich der Brandenburger AfD-Vorsitzende René Springer zitiert wird, fällt da kaum auf!

Zumindest nicht Titanic

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg