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Oben in Paris
Schriftsteller Édouard Louis gehört zu den jungen französischen Intellektuellen, die das Denken neu aufgewirbelt haben. Als einstiges Arbeiterkind hat er es geschafft und entkorkt heute hauptberuflich Rotweinflaschen mit Starsoziologe Didier Eribon. Ein Gespräch über Armut und Literatur
Édouard Louis trägt einen schwarzen Mantel, den Kragen aufgestellt, es ist kalt hier in der Rue de Bavarde in Paris. Er hat die Heizung abgedreht, es sei im Mantel sonst einfach viel zu warm, sagt Louis und sitzt lässig auf seiner Chaiselongue. "Armut ist ein Fluch", sagt er, als wir auf seine Herkunft zu sprechen kommen, und erhebt das Glas. "Wir hatten früher nichts", gesteht er. "Nichts, außer diesem PEZ-Spender, den mir Luc aus der Parallelklasse einst beim Raufen mit einem Stein zertrümmerte." Mittlerweile sei Luc klebstoffabhängig und verkaufe Postkarten an Touristen vor dem Louvre, erzählt Louis und lächelt dann doch ein wenig.
Heute wisse Louis die Vergangenheit zu schätzen: "Ich denke oft an meine Familie, es ist die Krux im Leben, dass man erst im Nachhinein den Wert des Erlebten zu erfassen in der Lage ist." Weil ihm seine Familie etwas Wichtigeres mitgegeben habe?, wollen wir wissen. "Aber non! Weil ich mit ihren Biografien meinen Lebensunterhalt verdiene."
Früher sei sein Leben hart gewesen, heute habe er neue Freunde in Didier Eribon und Geoffroy de Lasagne gefunden, bestätigt er. Letzterer heiße allerdings Lagasnerie, berichtigt er uns und fährt fort. Didier Eribon sei auch die Initialzündung zu seiner literarischen Karriere gewesen. "Wie Didier da in die Provinz zu seinen Eltern gefahren ist und einfach alles aufgeschrieben hat. Den ganzen Schmonzenz – genial!" Didier habe die Armut zurück in die Literatur gebracht. "An Ideen?" – "Non, thematisch."
Schließlich steht er auf, meint, er möchte uns zeigen, was Literatur für ihn bedeutet. Er zieht sich einen Mantel über den Mantel und wir betreten die Straße. Édouard Louis hat sich einen neuen Gang zugelegt, erzählt er, passend zum neuen Habitus, den man für den Klassenwechsel benötige. Stolz schreitet er durch die Gassen, und tatsächlich lässt sich gegen seinen Gang nichts sagen; sauber setzt er ein Bein vor das andere, alternierend. Très bon!
Louis führt uns durch Hinterhöfe, Seitenstraßen und Gassen und scheint einige Mühe damit zu haben, zu finden, wonach er sucht. Dann endlich wird er doch noch fündig; mit einem Clochard im Schlepptau biegt er aus einer Gasse und führt ihn uns vor. "Seht her! Dieser Mensch ist arm." Er wuschelt ihm durch die Haare, zieht ihm die Ohren lang und linst gespannt und aufmerksam in verwucherte Nasenlöcher, bevor er sich bei ihm bedankt und ihn entlässt. Verdutzt trottet der Mann davon. Darin, so Louis, genau darin sehe er künftig die Aufgabe der Linken: "Unaufhörlich daran zu gemahnen, dass Reichtum besser ist als Armut!" Wir verstehen, nicken beeindruckt und sagen merci, Monsieur.
Fabian Lichter