Müters Söhne #19
Internetstar
"Nicht weinen, Mama, ich gehe noch viral"
Thorben ist 5 Jahre alt. Seine Mutter Viola Müter schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über ihn und ihre anderen zwei Söhne im Alter von 12 und 17 Jahren. Die Mutter nennt sie liebevoll ihre "Mütersöhnchen".
Es war eine klare Spätsommernacht, in der meine Freunde gegen die Fassade einer gotischen Kirche pinkelten. Sie alle schrieben am nächsten Tag im Französisch-Vokabeltest eine Eins. Nur ich hatte mich nicht getraut, an das heilige Gebäude zu urinieren, und schrieb eine Fünf. Danach schwor ich mir, niemals wieder etwas in meinem Leben zu bereuen. Meistens ist es mir leichtgefallen, nach diesem Credo zu leben. Selbst als ich meinen Mann betrogen habe. Seit einiger Zeit aber, vor allem wenn ich nachts nicht einschlafen kann, weil Henry auf der Panflöte die deutsche Nationalhymne spielt, schleicht sich immer wieder eine Frage in mein Bewusstsein: Was ist, wenn Thorben niemals viral geht?
Mittlerweile bin ich mir sicher: Das könnte ich mir nie verzeihen. Den Vorwurf trage ich schon mit mir herum, seitdem Thorben das Säuglingsalter überschritten hat. In den sozialen Medien wird mir täglich vor Augen geführt, wie es hätte sein können: Lachende, weinende, zaubernde, die Steuererklärung machende Säuglinge mit Millionen von Aufrufen. "Was ist, wenn ihm die Videos später peinlich sind?" Diese Frage meines Mannes kann ich mittlerweile auswendig mitsprechen. Immerhin sei es Gideon auch peinlich, dass ich ein Video, wie er aus Sand geformte Austern isst, an "Upps! Die Pannenshow" geschickt habe. Ja, aber es ist auch Gideon, sage ich dann immer. Dem bin sogar ich peinlich.
Natürlich stellt sich auch die Frage, ob es für Thorben nicht vielleicht schon zu spät ist. Die Branche ist hart. Auch wenn er jetzt noch viral gehen sollte: Werbeaufträge für Babypuder gehen an die Konkurrenz. Dieser verdammte Jugendwahn. Es ist sein gutes Recht, mir irgendwann vorzuwerfen, dass er nicht die Möglichkeit hatte, durch einen viralen Erfolg für kompostierbare Windeln aus Bambus-Viskose zu werben. Aber er soll mir nie vorwerfen müssen, nicht alles versucht zu haben, dass er wenigstens noch seine Milchzähne als Werbefläche anbieten kann.
Seit mein Mann auf unbestimmte Zeit im Urlaub ist, lade ich täglich Videos von Thorben hoch. Es ist nicht immer leicht. Sein letztes Video, eine Helmut-Kohl-Parodie, bekam nur 15 Aufrufe. "Mama, nicht weinen, ich gehe noch viral", versucht Thorben mich in diesen schmerzvollen Momenten zu trösten. Was wollen die Leute? Muss ich Thorben erst aus dem Fenster des Hotel Adlon halten? Tja, zu spät, jetzt will ich nicht mehr. Als ich ihn vor ein paar Jahren aus dem 6. Stock eines Kaufhauses hielt, filmte niemand mit.
Thorben wirkt immerhin entspannt. Obwohl er weiß, dass ich fünf Prozent der Werbeeinnahmen in seine Altersvorsorge investieren würde. Thorben hat anscheinend keine Angst vor Altersarmut. Und doch: Trotz all der Rückschläge werden die Vorwürfe leiser, wenn ich jetzt abends durch die neuen Videoaufnahmen scrolle. In Gedanken habe ich schon meine Hose ausgezogen und bin kurz davor, an die Kirche zu pinkeln.
Die Kolumne von Viola Müter erscheint jeden Donnerstag nur bei TITANIC.
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