Inhalt der Printausgabe

Die letzte Fahrt der MS Esprit

Ende November 2020 kam es an der Staustufe Frankfurt-Griesheim zu einem schweren Schiffsunglück: Sämtliche Passagiere des Mainkreuzers MS Esprit verloren in den eisigen, teils drei Meter tiefen Fluten ihr Leben. Aus dem Wrack des Schiffs wurde ein anonymes Tagebuch geborgen und der TITANIC-Redaktion zugespielt. Wir drucken es an dieser Stelle unkommentiert ab.

Montag, 16.11., Mittag
»Eine absolut neue Art der Buchpräsentation« wurde uns versprochen: Andreas Englisch, viele Jahre »unser Mann im Vatikan« für den Springer-Verlag, stellt seinen neuen Jetzt-schon-Bestseller »Der Pakt gegen den Papst« vor, und zwar sechs Mal hintereinander – auf einem Schiff! Eine geniale Idee, gerade in diesen Zeiten. Die FAZ-Sonderreise der MS Esprit soll uns an knapp drei Tagen zu den deutschen Bischofssitzen Speyer und Mainz führen, und als kompetente Begleitung ist Andreas Englisch nicht nur lesenderweise, sondern auch mit Anmerkungen, Erklärungen und Anekdoten an Bord. Dass in den 899 Euro (Juniorsuite auf dem Rubindeck) ein handsigniertes Exemplar des neuen Enthüllungsbuches enthalten ist, versteht sich von selbst.

Montag, 16.11., Abend
Als der luxuriöse Kahn gegen 15 Uhr am Frankfurter Mainkai einläuft, sehen wir ihn bereits: Locker über die Reling gebeugt, winkt uns Andreas Englisch zu, bevor er sich ein Megaphon greift und in seiner unnachahmlichen, aus zahlreichen Talkshowauftritten bekannten Nölstimme ruft: »Nächster Halt: Frankfurt. Hier hat sich der aktuelle Papst Franziskus 1986 für einige Monate aufgehalten, und der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki hat hier von 1958 bis zu seinem Tod gelebt.« Wahnsinn: Die ersten Fakten, noch ehe wir überhaupt eingestiegen sind! Als wir dichtgedrängt im Eingangsbereich stehen, um unsere Begrüßungscocktails entgegenzunehmen, gesellt Englisch sich dazu, völlig auf dem Boden geblieben trotz drei Jahrzehnten in Rom. Ganz nah dran am Papst, jetzt ganz nah dran an uns Gläubigen und Ungläubigen. »Negroni ist nicht nur ein Cocktail«, zieht Englisch die Aufmerksamkeit sogleich wieder auf sich, »so hieß auch ein Kardinal aus Genua, der unter Papst Innozenz XI. zum Bischof von Faenza erwählt wurde!« Wir bekommen Bändchen angelegt, was der ehemalige »Bild«-Mann erregt zappelnd kommentiert: »Insignien der kommerziellen Schifffahrt, wie die Attribute des Papstes. Hier, ich habe Ihnen eine Nachbildung der Tiara von Clemens VIII. mitgebracht, da dürfen Sie gerne ein paar Münzen reinwerfen. Eine Kapitänsmütze steht mir einfach nicht.« Lachend strubbelt er sich durch sein grob gekämmtes Haar. »Ich würde jetzt gerne auch ein paar einleitende Worte sagen«, versucht der Chefsteward das Wort zu ergreifen, was Englisch gekonnt zu unterbinden weiß: »Nee nee, ich übernehm’ das schon! Liebe Brüder und Schwestern, gehen Sie erst mal auf Ihre ›Konklaven‹, wir sehen uns dann 18 Uhr zum Abendmahl wieder, hähähä!«

Dienstag, 17.11., Morgen
Andreas Englisch hat es sich nicht nehmen lassen, uns alle persönlich zu wecken. Punkt 5 Uhr 30 klopfte es an der Kabinentür: »Morgi et orbi! Um diese Zeit ist Benedikt XVI. immer aufgestanden, von nichts kommt nämlich nichts.« Dabei sind wir gestern erst spät ins Bett gekommen, denn Englisch ließ eine vatikanische Schnurre nach der anderen vom Stapel, während er sich Häppchen vom Buffet schaufelte. Auch im Frühstückssaal ist »der Freund vom Papst« (»Bild«) erstaunlicherweise der Erste. »Hmmm, Eggs Benedict«, mampft er mir zur Begrüßung zu, »die erinnern mich an Seine Heiligkeit Benedikt XVI., mit dem ich damals viel Zeit verbracht habe! Einer seiner Vorgänger, Paul V., hat ja sogar die Benedictio ovorum eingeführt: Segne, Herr, wir bitten dich, diese Eier, die du geschaffen hast, auf dass sie eine bekömmliche Nahrung für deine gläubigen Diener werden, die sie in Dankbarkeit und in Erinnerung …« Unauffällig entferne ich mich.

Dienstag, 17.11., Mittag
Speyer! In einer seltenen Verschnaufpause dürfen wir uns ohne Beschallung durch A. Englisch für 15 Minuten die Fußgängerzone der rheinland-pfälzischen Bischofsstadt anschauen. Aus einer Hugendubel-Filiale tretend, schließt sich uns der renommierte Autor wieder an: »Hab nur fix ein paar Bücher signiert, hähä. Jetzt auf, auf zum Dom! Ein prächtiges Bauwerk mit sagenhaft viel Geschichte. Erbfolgekrieg, Investiturstreit, das Konkordat von 1801 … hey, Sie, schlecken Sie da etwa ein Eis?!« Zornig deutet er auf eine Teilnehmerin. »Hat Johannes Paul II. etwa Eis geschleckt, als er 1987 diesen ehrwürdigen Ort besuchte, du Frevlerin?!« Die Ertappte blickt betreten zu Boden. Englisch schlägt ihr die Waffel aus der Hand und setzt später durch, dass sie den Rest der Reise ohne Kostenerstattung zu Fuß zurücklegen muss. »Deus caritas est, Deus caritas es …«, murmelt Englisch und reibt sich die Schläfen, bevor er uns mit einer dornenbewehrten Geißel in Richtung des romanischen Megabauwerks treibt.

Dienstag, 17.11., später Abend
Dem Abendessen musste ich fernbleiben, um für das morgen anstehende »Bistums-Quiz« zu lernen. Nicht nur das heute in Speyer Gelernte soll abgefragt werden, auch alles, was uns Andreas Englisch am Nachmittag in der Panorama-Lounge erzählt hat, kann Inhalt einer Frage sein, und das war eine Menge! Das mit dem »unglaublichen Wissen über den Vatikan und seine Päpste« in der Ankündigung der Leserreise war jedenfalls keine Übertreibung. Die Deckhelfer munkeln bereits, dass, wer weniger als 40 Prozent der Quizfragen richtig beantwortet, über die Planke geschickt wird. Große Angst.

Mittwoch, 18.11., kurz nach Mitternacht
»Das Bett in der Residenz von Castel Gandolfo ist sogar noch ein bisschen schmaler als Ihres«, eröffnet mir Andreas Englisch vom Fußende meiner Schlafstätte aus. Wie ist er hier hereingekommen? »Wussten Sie, dass während des Zweiten Weltkriegs circa 40 Babys in dem päpstlichen Bett geboren wurden?« – »Kommt das im Test dran?« will ich wissen, doch da sprudelt es aus dem westfälischen Journalisten schon weiter heraus: »Und wie viele wohl gezeugt wurden, haha!? Als einer der Ersten war Urban VIII. dort länger einquartiert, Franziskus selbst hält sich dort ja nicht mehr auf, er hat das Schloss für die Öffentlichkeit geöffnet, wobei die auch nicht alle Ecken zu sehen bekommt, da müsste man schon mit einem erfahrenen Papstkenner wie mir durchschleichen! Wobei ich, wie gesagt, eher in Rom zu Hause bin, ich bin Römer mit Leib und Seele, seit ich dort 1987 als kleiner Sportreporter ankam …« – »1987, da war doch auch der Papstbesuch in Speyer!« werfe ich ein. »Schnauze«, würgt mich Andreas Englisch ab. »Jetzt herrscht jedenfalls Bescheidenheit, und damit eckt Franziskus natürlich an, darum geht es auch in meinem Buch ›Der Pakt gegen den Papst‹, und von dieser Bescheidenheit habe ich mir eine dicke Scheibe abgeschnitten, wenn ich das so sagen darf, aber jetzt lasse ich Sie mal ruhen, nech?«

Mittwoch, 18.11., Vormittag
Kurze Pause während unseres Landgangs in Mainz. Ich sauge die Informationen zu dieser Bistumsstadt auf wie ein Essigschwamm, wobei ich klugerweise schon die Zeit am Frühstückstisch genutzt habe, mir ein wenig Wissen auf Wikipedia anzulesen. An der Safttheke stand derweil »unser Mann im Papst« und presste Orangen aus. »Kennen Sie eigentlich die 32 Märtyrerinnen von Orange, die Pius XI. 1925 selig gesprochen hat? Geile Story! Waren Sie mal im Giardino degli aranci? Da werden Früchte angebaut, die sind gar nicht mit denen hier zu vergleichen, schmackofatz!«

Soeben wurden uns Fußfesseln angelegt. Wenn sich auf dem Weg zum Hohen Dom St. Martin jemand zu weit von der Gruppe entfernt, bekommt er oder sie einen Stromschlag versetzt. »Am Nachmittag ›liest‹ Andreas Englisch aus seinem neuesten Buch und fasziniert mit seinen zahlreichen Anmerkungen zum aktuellen Geschehen in Rom«, heißt es im Programm. Die Anführungszeichen um »liest« beunruhigen mich inzwischen kaum noch. Unser aller Wille ist gebrochen.

Donnerstag, 19.11., Morgen
Das Gala-Dinner hätte eigentlich der gestrige Höhepunkt werden sollen, aber der Appetit war uns allen gründlich vergangen. Andreas Englisch hatte in der Nachmittagssitzung ein Exempel statuiert: Ein älteres Ehepaar hatte versucht, den Chef der Bordreiseleitung zum Gegen-Englisch zu putschen, und musste zur Strafe die Aschenbecher auslecken. »Habemus happahappam!« lallte Englisch zum Hohn. »Was glauuuben manche Leute, wer sie sind? Ich habe mit dem Wunderpapst über Fußball geredet, habe Heiligabend im Petersdom verbracht, ich weiß, wo in den Vatikanischen Geheimarchiven die nacktesten Statuen und Dan Browns Leiche versteckt sind«, deklamierte der Rom-Experte und stolzierte dabei mit hinter dem Rücken verschränkten Armen zwischen den zitternden Passagieren hin und her. Hätte ich doch lieber die Lyrik-Kreuzfahrt mit Thomas Gsella gebucht!

Es geht so nicht weiter. Ich muss handeln. Noch heute soll von Frankfurt aus eine letzte, sechste Sonderreise starten. Das muss verhindert werden. Wer weiß, was der Irre für nächstes Jahr geplant hat … Sobald ich unbeobachtet bin, werde ich mich in den Steuerraum schleichen. Ich könnte den Kapitän mit einem dieser extrahart gestärkten Handtücher niederschlagen … und das Schiff kentern lassen … An der Schleuse! Das ist es. Manchmal muss man Unrecht begehen, um größeres Unrecht zu verhindern, Papst Pius XII. hätte es so gewollt. Englisch darf nicht auf noch mehr unschuldige Menschen losgelassen werden.

 

Torsten Gaitzsch

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Könnte es sein, »ARD-Deutschlandtrend«,

dass Dein Umfrageergebnis »Mehrheit sieht den Frieden in Europa bedroht« damit zusammenhängt, dass seit über zwei Jahren ein Krieg in Europa stattfindet?

Nur so eine Vermutung von Titanic

 Grüß Gott, Businesspäpstin Diana zur Löwen!

Du verkaufst seit Neuestem einen »Anxiety Ring«, dessen »bewegliche Perlen« beim Stressabbau helfen sollen. Mal abgesehen davon, dass das einfach nur das hundertste Fummelspielzeug ist, kommen uns von ihren Nutzer/innen glorifizierte und zur Seelenerleichterung eingesetzte bewegliche Perlen an einer Kette verdächtig bekannt vor.

Ist für Dich natürlich super, denn auch wenn Du Deinen treuen Fans skrupellos das Geld aus der Tasche ziehst, in die Hölle kommst Du zumindest für diese Aktion sicher nicht.

Auch wenn dafür betet:

Deine Titanic

 Ein Vorschlag, Clemens Tönnies …

Ein Vorschlag, Clemens Tönnies …

Während Ihrer Zeit im Aufsichtsrat bei Schalke 04 sollen Sie in der Halbzeitpause einmal wutentbrannt in die Kabine gestürmt sein und als Kommentar zur miserablen Mannschaftsleistung ein Trikot zerrissen haben. Dabei hätten Sie das Trikot viel eindrücklicher schänden können, als es bloß zu zerfetzen, Tönnies!

Sie hätten es, wie Sie es aus Ihrem Job kennen, pökeln, durch den verschmutzten Fleischwolf drehen und schließlich von unterbezahlten Hilfskräften in minderwertige Kunstdärme pressen lassen können.

Aber hinterher ist man immer schlauer, gell?

Dreht Sie gern durch den Satirewolf: Titanic

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Gute Frage, liebe »Süddeutsche«!

»Warum haben wir so viele Dinge und horten ständig weiter? Und wie wird man diese Gier wieder los?« teast Du Dein Magazin an, dasselbe, das einzig und allein als werbefreundliches Vierfarb-Umfeld für teuren Schnickschnack da ist.

Aber löblich, dass Du dieses für Dich ja heißeste aller Eisen anpackst und im Heft empfiehlst: »Man kann dem Kaufimpuls besser widerstehen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Wer will, dass ich das haben will?«

Und das weiß niemand besser als Du und die Impulskundschaft von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Empfehlung für die Generation Burnout

Als eine günstige Methode für Stressabbau kann der Erwerb einer Katzentoilette – auch ohne zugehöriges Tier – mit Streu und Siebschaufel den Betroffenen Abhilfe verschaffen: Durch tägliches Kämmen der Streu beginnt nach wenigen Tagen der entspannende Eintritt des Kat-Zengarteneffekts.

Paulaner

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

 Im Institut für Virologie

Jeder Gang macht krank.

Daniel Sibbe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg