Aus Eugen Egners Püppchenstudio
Dichterlesung
An der Tür zum Mehrzwecksaal hing ein Blatt Papier, auf dem geschrieben stand: Heute Dichterlesung. „Um Himmelswillen nur das nicht“, hätte ich fast laut ausgerufen. Ich bin, um eine Untertreibung zu gebrauchen, absolut kein Freund von Dichterlesungen und wollte deshalb schnell zur Bar weitergehen, doch da fühlte ich mich von hinten grob in den überraschend dunklen Saal hineingestoßen. Beim Vorwärtstaumeln hatte ich den undeutlichen Eindruck, die Stuhlreihen seien allesamt voll besetzt. Mühsam tastete ich mich an den Reihen entlang und glaubte, auf den Stühlen lauter kopflose Figuren sitzen zu sehen. Endlich ganz vorn angelangt, zog mich jemand auf den freien Stuhl neben sich. Totenstill war es im Raum, niemand schien auch nur zu atmen. Auf der Bühne wurde plötzlich eine Lampe eingeschaltet und beleuchtete einen kleinen Tisch, hinter dem ein unscheinbarer Mann saß, vermutlich der Dichter. In meiner Erwartung, er werde nun mit seiner Lesung beginnen, sah ich mich getäuscht, denn stattdessen fing er an, hemmungslos Grimassen zu schneiden. Binnen kürzester Zeit nahmen dieselben eine furchtbare Qualität an – es konnte bald kein Zweifel mehr daran bestehen, daß der Mensch sich tatsächlich veränderte. Nach einigen grotesken Vorstufen hatte er einen Kopf aus Styropor. Zu allem Überfluß erhob er sich sodann vom Stuhl, um albern um den Tisch herumzutanzen. Dabei lachte er unbändig, und vor lauter Lachen trieb er absonderliche Körperformen aus, verzerrte Wülste, Verlängerungen und Verdickungen. Wenigstens las er nichts vor.
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