Humorkritik | Juli 2020

Juli 2020

Humor ist Erkenntnis der Anomalien.
Friedrich Hebbel

Objektiv Ischgl

Kennt man Leute, die sich aus Ischgl einen Corona-Infekt mitgebracht haben, mag man über der Anteilnahme die Frage vergessen haben, was sie da, am Tiroler Schnee-Ballermann, eigentlich verloren hatten. Die Antwort ist einfach: Die einen finden’s geil, die andern ironisch und also ebenfalls geil. Wer es aber besonders geil findet, das hat der Fotograf Lois Hechenblaikner, der aus der Gegend stammt und seit zweieinhalb Jahrzehnten den lokalen Tourismus und seine Exzesse dokumentiert, im Interview mit der »Süddeutschen« verraten: »Im italienischen Gröden hat die Après-Ski-Unkultur nie diese Ausmaße angenommen. Die Wirte erklären das damit, dass ihre italienischen Gäste abends lieber gepflegt essen gehen mit einem Glas Wein. Womit ich die Italiener nicht idealisieren will. Aber jedes Land hat eben andere Grundbeschädigungen«, und die Deutschen hätten »etwas Gehemmtes. Das haben unsere Bergbauernbuben instinktiv kapiert: So ein deutscher Tourist braucht einen Anschubser, damit er loslässt. Den Deutschen musst du einstellen zwischen 0,5 und einem Promill, da beginnt die Wurstigkeit, und dann kannst du ihn abmelken. Dieses serielle Auf-Betriebstemperatur-Bringen, Tag für Tag, das haben gewisse Après-Ski-Wirte auf die Spitze getrieben. Das ist ja nicht kriminell, sondern eher so in Richtung bissl diabolisch.« Und a bissl komisch eben auch.

Bei der Betrachtung von Hechenblaikners Bildband »Ischgl« (Steidl) gibt’s aber dann doch nix zu lachen. Sicher, Ischgl ist die Hölle auf Erden, die äußerste Kaputtheit von Mensch und Natur, und die Schlucht zwischen Anspruch (Krone der Schöpfung) und Wirklichkeit (Ischgl), sie klafft. Das kann aber nicht mehr überraschen, denn wie es am Ballermann zugeht, ist bekannt, und Junggesellenabschiede gibt’s in jeder Fußgängerzone. Mit Blick auf Hebbel, s.o., könnte man sagen: Diese Anomalien sind keine mehr. Dass das Triebwesen Mensch den Karneval nötig habe, weiß der kulturkritische Bildungsbürger, der Freud und Bachtin gelesen hat; wer dieses Bedürfnis pervertiert, weiß das Nachwort: »Ein Einzelphänomen ist der ›Fall Ischgl‹ nicht. Er spielt sich vor der Folie eines zu Wachstum und immer mehr Profit verdammten Wirtschaftssystems ab, das von den Folgen und den seelischen Preisen, die es dafür zu entrichten gilt, nichts wissen will.«

Das »Handelsblatt«, lesen wir ebd., habe Hechenblaikner als »fotografischen Thomas Bernhard« belobigt. Was man halt so daherredet, wenn es um Österreich geht, denn Fotografie übertreibt ja wesensmäßig nicht. Eine gewisse, wenn auch schwarze Komik entwickelt erst die kleine Sammlung von Pressemitteilungen, die das Buch beschließt: »Kurioser Feuer-Unfall in Lokal. Bei einem Unfall in einem Lokal in Ischgl mit einer brennbaren Flüssigkeit hat ein Gast schwere Verbrennungen erlitten. Ein anderer Gast wollte eine Champagnerflasche mit einem brennenden Golfschläger köpfen, als es zu dem Unfall kam.« Falls derlei schwere Idiotien noch lustig und nicht wiederum symptomatisch sind.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
28.03.2024 Nürnberg, Tafelhalle Max Goldt
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt