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November 2005
Die Reform frißt ihre Kinder Vom Ende einer Meinungstyrannei (Seite 2 von 2) |
Jedenfalls waren jetzt alle Dämme gebrochen. Am 23.9. rechnete erneut Hans Leyendecker in der Süddeutschen fulminant mit der gesamten deutschen Presse ab: »Sie hat sich blamiert. Groß-Publizisten verwechselten die eigene Wechselstimmung mit der Stimmung der Bevölkerung – Selbstsuggestion ersetzte Recherche.« Schon nach dem Fernsehduell am 4. September sei die »Lücke zwischen der Wahrnehmung durch Pressemenschen und der Bevölkerung« erschreckend sichtbar geworden; am dümmsten jedoch hätten sich wieder einmal die üblichen Reformschreihälse aus Hamburg angestellt: »Fast alle Blätter taten so, als sei Merkels Sieg nur noch Formsache: Den Takt versuchten aber zwei Zeitschriften vorzugeben, die früher mal im Zweifel linksliberal waren: Stern und Spiegel trommelten für Schwarz-Gelb – wie die Altvorderen einst für die neue Ostpolitik. Lohnnebenkosten als Chiffre fürs Leben.« Was immer das auch heißen mag; höchstwahrscheinlich aber nichts Gutes für die zurückweichende Einheitsfront der Großaktionäre und Unterschichtenenteigner! Beherzt und vorbildlich liberal versuchte deshalb am 28.9. in derselben Zeitung Heribert Prantl, das Faß wieder zuzumachen, indem er die Torheiten des Zentralorgans der Ausbeuter und Finanzdienstleister alleine zu dessen Problem erklärte: »Nun mag man lange rechten, ob und wie angebracht die hämende Kampagne gegen die nun abgewählte Regierung war und ist. Sie war wohl überzogen, sie ging womöglich auch einem erheblichen Teil der Wähler auf die Nerven und hat so dem guten Ruf der Kampagneros nicht unbedingt gedient – aber: Zur Pressefreiheit gehört auch die Freiheit zur selbstschädigenden Kampagne.« Der großmütige Prantl indes konnte nicht damit rechnen, daß sich nochmals einen Tag später, am 29.9., die nochmals sehr viel liberalere Zeit auf ihrer Titelseite zu Wort meldete und auch ihm, dem Münchner, verschärft ins Gewissen redete: »Vielleicht sollten wir Journalisten nach dem 18. September nicht gleich zur Tagesordnung übergehen.« Vielleicht seien nämlich, so Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo ergriffen, »wir Journalisten Teil des Problems, das mit dem überraschenden Ergebnis vom 18. September sichtbar geworden ist: Das Sensorium für die Menschen außerhalb des politischen Betriebes ist stumpf geworden.« Gut für die Menschen, aber schlecht für den Berufsstand! Während Thomas Assheuer im Feuilleton derselben Ausgabe entschiedenen Klartext schrieb wider »jene, die im Meinungskartell Stern-Welt-Focus/Spiegel Angela Merkel liebedienerisch ins Amt schreiben wollten – sozusagen als Flügeladjudanten der künftigen Macht mit privilegiertem Zugang zur Wahrheit«, donnerte Chefredakteur di Lorenzo abschließend und für alle Zeiten: »Wenn Journalisten Stimmung machen, setzen sie ihr höchstes Gut aufs Spiel: die Glaubwürdigkeit.« Danach konnte natürlich nicht mehr viel kommen; und kam auch nicht. Am 1.10. sorgte sich der Spiegel wieder ganz fürchterlich ums Land (»Steht die CDU vor einem Linksruck?«) und maulte der erzreaktionäre Chefredakteur Stefan Aust in seiner »Hausmitteilung«, die An- und Vorwürfe gegen sein Blatt seien durchweg gegenstandslos und gemein: »manch journalistischer Parteigänger« habe da »allerhand Verschwörungsmaterial« zusammengetragen, »kritische Distanz« jedoch bleibe letztlich das »Betriebskapital einer unabhängigen Zeitschrift« – als die sich der gebeutelte Spiegel jetzt wohl zur Abwechslung mal wieder verstanden wissen wollte. Doch wie das so ist mit der journalistischen Glaubwürdigkeit: Wenn sie weg ist, ist sie weg. Und ließe sich, wie hinzuzufügen wäre, aber allerhöchstens wiedergewinnen, eines Tages, in weiter Ferne, wenn der abstoßenden Propaganda für Reformen und weitere Verelendung ein für alle Mal abgeschworen sei – und im Bündnis mit den mehr oder weniger werktätigen Massen konsequent angestrebt würde: die Revolution, das Glück für alle.
Mark-Stefan Tietze |
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