Inhalt der Printausgabe
Januar 2005
Die Stabilität der Tomatenschelte |
Sie wärmt im Winter und kühlt im Sommer - Bekleidung aus Leinen soll ja so vorteilhaft sein! Als ich neulich vor einer jener im West-Berliner Stadtzentrum recht zahlreichen kleinen Boutiquen stand, die Mode für bildungsnahe ältere Menschen anbieten, namentlich Anzüge aus Leinen, entschied ich jedoch, mich bezüglich dieses Looks noch einige Jahrzehnte aufzusparen und wunderte mich überdies darüber, daß einige denkwürdige Jubiläen von den Medien einfach verschlafen werden - als vor etlichen Jahren "30 Jahre Schlabberlook" zu feiern gewesen wären, war es allein Tex Rubinowitz, der, wenn auch nur in kleinem Rahmen, darauf hingewiesen hat. Möglicherweise ist jetzt auch nicht der richtige Zeitpunkt, den Geburtstag nachzuholen, leidet doch der Schlabberlook schon seit längerem an gewissen Ausmergelungserscheinungen in Form einer vielbeklagten Eingewurstetheit insbesondere der jungen Mädchen. Man sprach sogar schon von einer Wampenwanderung, worunter eine physische Schwester dessen, was Dünen tun, zu verstehen sein mag, und in der Tat: In meiner Kinderzeit waren es die Bauarbeiter, die mit herrlichen Bäuchen gesegnet waren. Heute sind die Maurer überwiegend rank und stählern, doch ihre Wampen gingen nicht verloren, sie blieben standhaft in der Welt - man weiß nicht genau wie: Entweder mit Hilfe der gezeitenlenkenden Kräfte des Mondes oder aber durch simplere Verschiebungen sozialer Natur gerieten sie in Reiselust und landeten auf den Vorderseiten der Mädchen. Viel Grobes und Barsches war darüber bereits zu hören, zum Beispiel, was das denn für eine Welt sei, in der die alten Männer hübscher anzusehen seien als die jungen Mädchen? Daß dies ja wohl mehr an der heutigen, extrem würdezehrenden proletarischen Mädchenmode liege, muß auf solches Spruchwerk allerdings entgegnet werden, und überhaupt: Volksverfettung als Politikum ist ein richtig wichtiges Riesenthema, doch das Individuum darf nicht angegangen werden, es muß unter den Schutz eines allgemeinen diskreten Anstands gestellt werden und - ganz wichtig: Dicke Leute sind nicht häßlich! Dicke Leute sind wie verschneite Fahrräder! Man muß nur den Schnee wegpusten oder abbürsten, und schon hat man wieder ein herrlich schlankes Fahrrad, mit dem sich's prima durch die Landschaft flitzen läßt. Bitte lesen Sie weiter in der Original-TITANIC. Erhältlich an jedem Kiosk oder im Abonnement. Max Goldt
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