Inhalt der Printausgabe

August 2004


Das letzte Blatt

 

Chlodwig Poth war gestorben. Und weil ich es nicht glauben konnte, fuhr ich raus nach Sossenheim, um zu sehen, ob es auch stimmte. Warum sollte jemand tot sein, der bis vor kurzem noch gelebt hatte? Chlodwig war der Gottvater der Satire, das bewies seine wallende weiße Mähne, und das bewies sein langer, prächtiger Bart. Er hatte im Laufe seiner sechzig Schaffensjahre nicht nur alle möglichen Mal- und Zeichenstile entwickelt, neue Gattungen erfunden und komplette Romane gezeichnet, sondern auch ein gewaltiges Witzimperium aufgebaut; er hatte Pardon und später die TITANIC gegründet, um uns Jungen die Chance zu geben, für ihn arbeiten zu dürfen, zur Mehrung seines Geldes und seines Ruhmes. Das mit dem Geld hat leider nie geklappt, und auch der Ruhm stellte sich nur äußerst zögerlich ein, doch der Gottvater ließ es sich nie nehmen, uns persönlich bei der Arbeit zu überwachen.
Einmal die Woche schaute er in der Redaktion vorbei, verzehrte, um betont harmlos zu wirken, ein Stück Streuselkuchen, dann adelte er die Redaktionskonferenz allein durch seine Anwesenheit und kommentierte unsere nichtswürdigen Ideen, die wir der Reihe nach mit ängstlich zitternder Stimme vorbrachten, durch eisernes Schweigen. Ob eine Idee schlecht oder gut war, signalisierte er im Idealfall durch ein mildes Schmunzeln. Das war das Höchste. Er sagte nie ein einziges Wort, außer wenn es um den Krieg ging - um den zweiten, den bevorstehenden dritten oder um den zwischen ihm und der ehemaligen Pardon-Verlegerschaft. Wenn er fertig war mit Schweigen, dann ging der Satiregott nach Hause. Und wir blieben zurück und durften weiter für ihn schuften. Das empfanden wir als gerecht, schließlich hatte Chlodwig lange genug geackert, um uns Jungen eine sichere und warme Redaktionsstube aufzubauen. Ohne ihn säßen wir auf der Straße.
In Sossenheim fand ich sofort den Weg zum alten Schulhaus, in dem seit Jahren der Gottvater persönlich die Sossenheimer zeichnend darüber informierte, wie ihr Ort aussah. Durch Chlodwigs nunmehr über fünfzehn Jahre geführte Serie wurde Sossenheim, wie sogar die Oberbürgermeisterin nicht ohne Stolz bemerkte, zum "berühmtesten Stadtteil der Republik".
Bevor ich diesen zum ersten Mal betrat, kannte ich mich bereits bestens dort aus. Ich kannte die enge, kurvige Hauptstraße, durch die Tag und Nacht die Lastwagen dröhnten, ich kannte die häßlichen Häuser der Volksbank, des HL- und des Penny-Marktes, in dem griesgrämige Greise in Jogginganzügen die Sonderangebote sichteten, ich kannte die Gaststätte Riwweler, wo die Menschen feierten und sich zuriefen: "Des Wasser wird knapp aufer Erd, da könne wir Äppelweitrinker doch nur müde lächeln, des betrifft uns ja net." Ich kannte die monströse Karl-Sonnenschein-Siedlung und den Sozialbaubunker "Tatzelwurm", ohne je dagewesen zu sein. Aber ich kannte auch die schönen Niddawiesen kurz vor Höchst und die Kleingartenkolonie, ich erkannte einzelne Häuser, und ich glaubte sogar, einzelne Menschen wiederzuerkennen, als ich beim alten Schulhaus um die Ecke bog. Da, der Mann mit dem Hündchen - war das nicht der, der neulich, vor genau diesem Hause stehend, zu einem Altersgenossen gesagt hatte: "Asylante habe hier nix zu suche. Schließlich sin mir e kultiviert Land, und humanitär dazu"?
Die Witwe öffnete die Tür. Sie trug schwarz und geleitete mich zum Atelier des Satiregottes. Es schien bewohnt, nicht verlassen. An der Wand verblichene Fotos der Vorväter aus Wuppertal; in der Ecke eine Staffelei, darauf ein Ölbild: der lächelnde Chlodwig an der Seite seiner Anna - ein Königspaar in Zivil. Rechts der Schubladenschrank, randvoll mit Blättern, getuscht in einer geheimnisvollen Technik, die der Satiregott eigens für sich entwickelt hatte: "Stadtschaften" nannte er seine opulenten Veduten, die er mit farbigen Tuschen und Aquarellfarben und mit äußerster Präzision zeichnete. Da flirren die bunten Linien, die vielfarbigen, kreuz und quer gesetzten Schraffuren vereinen sich zu architektonischen Flecken- und Flächenteppichen, zu großen, wuchtigen und zugleich transparent schimmernden Arealen. Wolkenberge und Farbgewitter, wie sie nur ein Gott schaffen kann, und mittendrin bemitleidenswerte Figuren, Greise und Babys, Pensionäre und Passanten, Teenies, Kids und Twentysomethings, die Chlodwig Poth als Heinrich Zille der neunziger Jahre hier in der Last-Exit-Stadt Sossenheim aufs Papier gebannt hat. Eine Chronik der Deutschen und eine einzige gigantische Klageschrift gegen das deutsche Architekturunwesen.
Das alles gleichzeitig auf ein einziges Blatt zaubern, und das auch noch im Blindflug, nur mit Hilfe des monströsen Vergrößerungsgeräts, das rechts am Schreibtisch ruht - das kann ein Mensch allein niemals leisten, dachte ich. Das konnte nur ein Gottvater der Satire.
Da steht sein Schreibtisch, startbereit wie eh und je. Papiere, Tücher und Tintenfäßchen, aufgestellt sind einige Blätter aus Paris, Rom und Neuruppin, denn aus den Farben, aus dem Licht und den Schatten dieser Städte wurde Sossenheim nachgebaut, die Mutter aller Vorstädte.
Links ein Stapel Fotos, die er bei Spaziergängen durch den Ort aufgenommen hat, manchmal mußte Anna dabei Schmiere stehen. Häuser, Straßenkreuzungen, Ladengeschäfte, der HL-Markt; und viele parkende Autos. Die waren ihm wichtig. Er war stolz darauf, der einzige zu sein, der in sein Werk ständig und mit Akribie auch die Automobile eingearbeitet hat. Chlodwig liebte Autos, aber leider war diese Liebe einseitig. So zeichnete er sie wenigstens, und so ist sein Werk neben vielem anderem auch noch eine durchgehend gezeichnete Kraftfahrzeuggeschichte unseres Landes.
Rechts liegen Federn und Pinsel. Daneben ein Aschenbecher mit einem Restchen des geliebten Hochlandgrases, ein Stapel CDs, Beethovens späte Streichquartette, die siebte Symphonie, die Goldberg-Variationen und - Mahlers Sechste, die "Tragische", was auch sonst.
In der Mitte eine grüne Kladde - ein Manuskript. Je mehr das Augenlicht ihm schwand, desto fieberhafter begann er, wieder zu schreiben. Zuerst über sein Leben als "Taugewas", jetzt über den Mann, der ihn siebzig Jahre zuvor zum Vierteljuden abgestempelt hat - über Adolf Hitler, über einen, nur einen einzigen Tag im Leben des Tyrannen. Das Manuskript ist unvollendet, ebenso wie das Blatt, das darunter plötzlich zum Vorschein kommt. Eine Skizze, ein roher Entwurf. Das letzte Blatt des großen Zeichners. Umrißlinien zeigen Häuser, Fensterläden, einen Baum, im Hintergrund einen Hochhaustorso, ein Auto natürlich und, angeschnitten, im Profil durchs Bild eilend, einen Mann. Noch ahnt der Mann nichts von der Sprechblase, die bald über seinem Kopf sich bilden wird. Von den wunderschön windschief gemalten Buchstaben, die der Satiregott gleich in die Blase lettern wird. O könnten wir uns doch nur selbst mit einer Pothschen Denkblase über dem Kopf sehen - wieviel schöner und interessanter wäre diese Welt! Aber was wird dieser unbekannte und freilich noch unsichtbare Sossenheimer einmal denken?
Vielleicht dies? "Alles kost' halb so viel, ist aber teurer, mit dem Quatsch hätten sie auch warten können, bis ich unter der Erd bin"? Oder das: "Wennse mich heute nicht läßt, is fini. Drei Abende balzen ist das höchste der Gefühle". Oder: "Wir sind Vize-Weltmeister geworden, und alle haben gejubelt, un ich bin Vize-Abteilungsleiter geblieben, so muß ich das der Heidi erklären, aber jubeln wird sie da nicht." - Alles Sprech- und Denkblasen aus den letzten zwanzig Monaten.
Verwaist steht sein Zeichentisch, die Geburtsstätte eines Weltreichs aus Tusche, Tücke, Witz und Wahrheit. Hier hat Chlodwig Poth nicht, wie manch anderer Gott, nur sechs Tage gearbeitet und am siebten Tag geruht und gesehen, daß es gut war - nein, hier hat er fast fünfzehntausend Tage gearbeitet, keinen Tag geruht, weil er gesehen hat, daß es überhaupt nicht gut war und daß wenigstens einer davon Kunde geben mußte. Benommen weichen wir zurück angesichts eines Werkes, das - dem Satiregott sei Dank - uns auf ewig begleiten wird.

Oliver Maria Schmitt





Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Du wiederum, »Spiegel«,

bleibst in der NBA, der Basketball-Profiliga der Männer in den USA, am Ball und berichtest über die Vertragsverlängerung des Superstars LeBron James. »Neuer Lakers-Vertrag – LeBron James verzichtet offenbar auf Spitzengehalt«, vermeldest Du aufgeregt.

Entsetzt, Spiegel, müssen wir feststellen, dass unsere Vorstellung von einem guten Einkommen offenbar um einiges weiter von der Deiner Redakteur/innen entfernt ist als bislang gedacht. Andere Angebote hin oder her: 93 Millionen Euro für zwei Jahre Bällewerfen hätten wir jetzt schon unter »Spitzengehalt« eingeordnet. Reichtum ist wohl tatsächlich eine Frage der Perspektive.

Arm, aber sexy: Titanic

 Lieber Fritz Merz,

im Podcast »Hotel Matze« sagst Du, dass Du in Deutschland große Chancen bekommen hättest und etwas zurückgeben wolltest. Jawollo! Wir haben da direkt mal ein bisschen für Dich gebrainstormt: Wie wär’s mit Deinem Privatjet, dem ausgeliehenen vierten Star-Wars-Film oder dem Parteivorsitz? Das wäre doch ein guter Anfang!

Wartet schon ganz ungeduldig: Titanic

 Wenn, Sepp Müller (CDU),

Bundeskanzler Olaf Scholz, wie Sie ihm vorwerfen, in einem »Paralleluniversum« lebt – wer hat dann seinen Platz in den Bundestagsdebatten, den Haushaltsstreitgesprächen der Ampelkoalition, beim ZDF-Sommerinterview usw. eingenommen?

Fragt die Fringe-Division der Titanic

 Nachdem wir, »Spiegel«,

Deine Überschrift »Mann steckt sich bei Milchkühen mit Vogelgrippe an« gelesen hatten, müssen wir selbst kurz in ein Fieberdelirium verfallen sein. Auf einmal waberte da Schlagzeile nach Schlagzeile vor unseren Augen vorbei: »Affe steckt sich bei Vögeln mit Rinderwahnsinn an«, »Vogel steckt sich bei Mann mit Affenpocken an«, »Rind steckt sich bei Hund mit Katzenschnupfen an«, »Katze steckt sich bei Krebs mit Schweinepest an« und »Wasser steckt sich bei Feuer mit Windpocken an«.

Stecken sich auf den Schreck erst mal eine an:

Deine Tierfreund/innen von Titanic

 Du, »MDR«,

gehst mit einer Unterlassungserklärung gegen die sächsische Linke vor, weil die im Wahlkampf gegen die Schließung von Kliniken plakatiert: »In aller Freundschaft: Jede Klinik zählt.« Nun drohen juristische Scharmützel nebst entsprechenden Kosten für beide Seiten. Wie wäre es, wenn die Linke ihr Plakat zurückzieht und im Gegenzug nur eine einzige Klinik schließt? Die Ersparnisse dürften gewaltig sein, wenn die Sachsenklinik erst mal dichtgemacht hat.

Vorschlag zur Güte von Deinen Sparfüchsen von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Feuchte Träume

Träumen norddeutsche Comedians eigentlich davon, es irgendwann mal auf die ganz große Buhne zu schaffen?

Karl Franz

 Guesslighting

Um meine Seelenruhe ist es schlecht bestellt, seit mich ein erschütternder Bericht darüber informierte, dass in Hessen bei Kontrollen 70 Prozent der Gastronomiebetriebe widerlichste Hygienemängel aufweisen (s. Leo Riegel in TITANIC 07/2022). Neben allerhand Schimmel, Schleim und Schmodder herrscht allüberall ein ernsthaftes Schadnagerproblem, die Küchen sind mit Mäusekot nicht nur kontaminiert, sondern praktisch flächendeckend ausgekleidet. Vor lauter Ekel hab ich sofort Herpes bekommen. Nun gehe ich vorhin in meine Küche, und auf der Arbeitsplatte liegen grob geschätzt 30 kleine schwarze Kügelchen. Ich bin sofort komplett ausgerastet! Zehn hysterische Minuten hat es gedauert, bis mir klar wurde, dass der vermeintliche Kot die Samen eines dekorativen Zierlauchs waren, der einen Blumenstrauß krönte, den eine liebe Freundin mir geschenkt hat. Ich hätte ihn einfach nicht noch einmal anschneiden sollen … Hysterie off, Scham on.

Martina Werner

 Krasse Segregation

Wer bestimmten Gruppen zugehört, wird auf dem Wohnungsmarkt strukturell diskriminiert. Viele Alleinstehende suchen händeringend nach einer Drei- oder Vierzimmerwohnung, müssen aber feststellen: Für sie ist dieses Land ein gnadenloser Apartmentstaat, vor allem in den Großstädten!

Mark-Stefan Tietze

 Beim Aufräumen in der Küche

Zu mir selbst: Nicht nur Roger Willemsen fehlt. Auch der Korkenzieher.

Uwe Becker

 Verabschiedungsrituale

Wie sich verabschieden in größerer Runde, ohne dass es ewig dauert? Ich halte es so: Anstatt einen unhöflichen »Polnischen« zu machen, klopfe ich auf den Tisch und sage: »Ich klopf mal, ne?«. Weil mir das dann doch etwas unwürdig erscheint, klopfe ich im Anschluss noch mal bei jeder Person einzeln. Dann umarme ich alle noch mal, zumindest die, die ich gut kenne. Den Rest küsse ich vor lauter Verunsicherung auf den Mund, manchmal auch mit Zunge. Nach gut zwanzig Minuten ist der Spuk dann endlich vorbei und ich verpasse meine Bahn.

Leo Riegel

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster