Inhalt der Printausgabe
August 2004
Dunkelblaue Leinwand auf schwarzem Grund |
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Bei meinem letzten Besuch stand dieses Bild neben dem Krankenbett von Bernd Pfarr. Er konnte es nicht mehr vollenden, aber man ahnt schon, wie es aussehen wird. Da fehlt ja nur noch ein Mann, der mit einem Zementsack durch die Nacht schleicht, oder der Hund des Stationsvorstehers, den ein herzzerreißender Jammer gepackt hat. Oder vielleicht ein Nashorn mit Aktentasche und Regenschirm, das auf seinem Horn Spesenquittungen durch die dunkle Savanne trägt? Nein, eigentlich habe ich nicht die geringste Vorstellung davon, wie das Bild aussehen könnte. Der, der das Bild fertig malen wollte, mußte seine Arbeit auf unabsehbare Zeit unterbrechen. Schlimm, doch noch viel schlimmer ist für mich, daß ich nie mehr diese Szene erleben werde: Ich betrete gerade ein Fachgeschäft für gebrauchte Schallplatten, da klingelt mein Handy, und eine Stimme sagt: "Hallo, mein Lieber, hier ist der Bernd. Wo bist du gerade?" "Im Mythos." "Ist das der Laden an der Berger Straße? Ich bin in zehn Minuten da." Ein Taxi fährt vor, Bernd steigt aus, und nun beginnt ein Vorgang, der mit dem Wort Plattenkaufen nur sehr ungenau beschrieben werden kann. Bernd zieht eine Platte aus dem Stapel und hält sie kurz in meine Richtung: "Die hast du, oder? Kein Thema." Meistens muß ich verneinen. "Das ist nicht dein Ernst. Du kennst die gar nicht? Ich denke, du sammelst Schallplatten?" In kürzester Zeit treten die ungeheuren Lücken meiner Bestände deutlich zu Tage. Prüfend hält Bernd ein Byrds-Doppelalbum in der Hand, "könnte ich eigentlich kaufen, meins sieht nicht so gut aus." Und dann, wie nebenher: "Du hast die ja sowieso alle", mit einem kaum hörbaren fragenden Unterton in der Stimme. Natürlich habe ich keine einzige Byrds-Platte, aber als wir nach zwei Stunden aus dem Laden taumeln, besitze ich zwei und eine von Al Green und drei von Elvis Costello. Ausflüchte wie "Ich finde die Stimme etwas anstrengend" läßt er nicht gelten. "Hans, du redest wie ein Mädchen, Costello ist Musik für Männer." Und damit ist die Sache entschieden. Zeit, Raum und europäische Wechselkurse spielten keine Rolle, wenn wir uns in einem Plattenladen aufhielten. Wir führten Gespräche, in denen es um die wirklich wichtigen Dinge ging, also ob man "The Village Green Preservation Society" unbedingt im Klappcover braucht und welcher Beatle der beste ist, und wir waren uns einig, daß es nur Paul McCartney sein kann. Die Menschheitsfrage "Beatles oder Stones" hatte Bernd kurzerhand durch einfachen Konjunktionsaustausch mit "Beatles und Stones" beantwortet. Er schaffte es jedesmal, mir irgendeine Stonesplatte unterzuschieben, und unterließ es nicht, am nächsten Tag anzurufen, um mich abzuhören. Wie mir das dritte Stück auf der ersten Seite gefallen habe und ob Keith Richards nicht sensationell sei? Manchmal rief er auch besorgt an, um zu fragen, ob er es übertrieben habe? Wenn er ganz ehrlich sei, müsse man von Adriano Celentano nicht unbedingt was haben, und Cheap Trick sei auch nicht so zwingend, "obwohl ..." Bei unserem ersten häuslichen Plattenabend kam schon sehr bald die Frage: "Hans, wie hältst du's mit dem schwarzen Mann?", und da half mir die eine nachweisbare Curtis Mayfield-Scheibe nicht wirklich. Bernd verschwand in einem Raum mit Hunderten von Platten, das seien aber "nur so ausgemusterte Sachen"; die wirkliche Sammlung, die ich nie zu sehen bekam, sei "da hinten", er deutete in dämmrige Tiefen der Wohnung. In einem kleinen dreistündigen Crashkurs wurde ich dann mit wirklich unverzichtbaren Werken ("Das ist Pflicht!") von Aretha Franklin, Marvin Gaye, Sam and Dave, Bobby Womack, Percy Sledge und Barry White bekanntgemacht, um nur die wenigsten zu nennen. Bernd drückte mir einen Block und einen Kugelschreiber in die Hand: "Hier ist was zu schreiben", und nach einer Viertelstunde erkundigte er sich leicht nervös: "Du notierst dir ja gar nichts, gefällt dir das nicht?" Meine zögerliche Entgegnung: "D-doch, aber ich weiß nicht, ob ich das zuhause noch mal hören werde", quittierte er mit "dir ist auch klar, daß das keine Entschuldigung ist". Als ich ihm in Zürich unvorsichtigerweise beichtete, in dem Laden, den wir vor zehn Minuten verlassen hatten, stehe dieses eine Doppelalbum von Marvin Gaye, befahl Bernd dem Taxifahrer, sofort anzuhalten, und warf mich aus dem Wagen: "Wenn du das nicht kaufst, bereust du es dein Leben lang." Ich mußte noch Geld umtauschen, und wir verpaßten unseren Zug, aber für Bernd war die Hauptsache, daß er mich und die Platte ("Here my Dear") zusammengebracht hatte. Das, was ich in Schallplattenläden und vor Abspielgeräten mit Bernd erlebte, kennen andere von Blechspielzeugauktionen, Tennisplätzen oder Restaurantbesuchen, aus Antiquariaten und Weinhandlungen. Der Mann kannte sich auf allen wesentlichen Gebieten menschlicher Zivilisation hervorragend aus, er besaß eine unfaßbar umfassende Bildung, wie sie früher höchstens Goethe zu eigen war. Allerdings hatte Goethe im Gegensatz zu Pfarr keine Ahnung, welche Platten von den Kinks man unbedingt haben muß und daß "Pet Sounds" gar nicht das beste Werk der Beach Boys ist. Wenn ich mir Bernds letztes Werk intensiv anschaue, dann kommt es mir plötzlich vor, als könne ich seinen Titel doch ahnen: "Nachdem die neuen nachtblauen Vorhänge aus undurchsichtigem Samt zugezogen waren, dämmerte es Dr. Günthardt, daß er die seltene Aufnahme von ›Luis Trenker und dem Modern Jazz Quartett‹ niemals finden würde, obwohl er sein Archiv doch gerade nach Farben geordnet hatte." Aber eigentlich ist es auf dem Bild viel zu dunkel, um das mit Sicherheit sagen zu können. Hans Zippert
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