Inhalt der Printausgabe
Diese Regierungsentscheidung war für das deutsche Gaststättengewerbe nur schwer verdaulich: Ende 2023 hatte sich die Koalition darauf geeinigt, den während der Corona-Pandemie und in der Energiekrise vorübergehend auf 7 Prozent gesenkten Steuersatz für Speisen in Restaurants und Cafés in diesem Jahr wieder auf unappetitliche 19 Prozent anzuheben. Die Branche befürchtet nun für die kommenden Monate eine satte Pleitewelle. Doch SPD, FDP und Grüne haben die Rechnung ohne den Gastwirt gemacht. TITANIC stellt Betriebe vor, die mit Innovationsgeist dem eigenen Hungertod trotzen.
»Bei uns bleiben trotz ausgelaufener Mehrwertsteuersenkung 2024 die Preise stabil«, verspricht Eckart Winzigmann vom Le Petit Bistrot seinen Kunden. Der Gastronom hat das vormalige XXL-Restaurant zu Beginn dieses Jahres in ein exklusives Speiselokal für Molekularküche zurückgebaut. Statt anderthalb Quadratmetern Schnitzel »Wiener Art« oder Großfamilienpizza stehen ab sofort Gerichte mit Hühnerklein, Borger Zwergen und Mini Wini Würstchenkette von Meica auf der Karte. »Wahre Geschmacksexplosiönchen«, schwärmt Winzigmann, der in der hauseigenen Laborküche gemeinsam mit Chefkoch Hans Schmal ein tragfähiges Zukunftskonzept für seine Gaststätte entwickelt hat: »Aufgrund unserer neuen Portions-, äh, -größen kochen wir mittlerweile auf Sparflamme und können jeder weiteren inflations- oder steuerbedingten Teuerung sofort begegnen, indem wir auf Atomarküche umsteigen.« Doch damit ist Winzigmann längst nicht am Ende seiner Kochweisheit angelangt: »Selbst wenn sich Protonen-, Neutronen- und Elektronenküche finanziell nicht mehr rentieren sollten, kann ich meinem Publikum immer noch verschiedene Quarks vorsetzen – für das gleiche Geld!«
Im Feinkostrestaurant Wonnemeyer in Gummersbach werden heute Lachs-Carpaccio und eingelegte Trüffel an Herzoginkartoffeln serviert. Das Konzept der Gourmetkette: gehobene Küche, die dauerhaft im Preis gesenkt ist. Ein wöchentlich wechselnder Menüprospekt präsentiert regionale Speisen (Nord oder Süd), die allesamt aus Produkten der Eigenmarken eines großen Lebensmitteldiscounters kreiert wurden. Nicht selten stecken hinter ihnen in Wirklichkeit namhafte Markenhersteller, die sich nicht zu erkennen geben. Die beiden Besitzer, zwei Gastro-Brüder, sind stolz auf die dort servierte Cucina Nobile, welche bereits Auszeichnungen (2 Karlskronen) erhalten hat. Bei der Einrichtung setzt man auf rustikales Design (Holzpaletten). Für die Spitzengastronomie ungewöhnlich sind die großen Portionen, die eher für Familien als für Singles geeignet sind. Dafür werden die Gerichte, die häufig ein sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis bieten, nur in haushaltsüblichen Mengen und nur, solange der Vorrat reicht, serviert und können an Angebotstagen schon wenige Minuten nach Eröffnung des Restaurants ausverkauft sein.
»Das Auge isst NICHT mit!« bewirbt Inhaberin Rabea Schwarz die Wiedereröffnung ihres Gasthofes im brandenburgischen Finsterwalde. Um die erhöhte Mehrwertsteuer an anderer Stelle einzusparen, hat sie in ihrer Wirtschaft alle Glühbirnen herausgedreht. Jeden Abend findet in dem Dunkelrestaurant jetzt ein Dinner in the Dark mit täglich wechselnden Überraschungsmenüs statt. Dass angeblich weniger Gäste ihr Lokal in dem abgelegenen Forstgebiet wieder verlassen würden, als sie zuvor empfangen hat, schiebt Schwarz auf eine von den anderen Gaststättenbesitzern und Kneipiers im Ort geführte Neiddebatte. Um auch mit den fiesen Gerüchten über ihr Essen (»Schmeckt wie ›Tote Oma‹, aber unterm Arm!«) ein für alle mal aufzuräumen, möchte sie ihre Gastrokolleginnen und ‑kollegen demnächst an einem Stammtisch in ihrer Eventlocation zusammenbringen: »Dann können sie sich bei einer Blindverkostung endlich ein eigenes kulinarisches Bild machen – bzw. eben nicht. Wohl bekomms, muhaha!«
»Als wir hörten, dass Hebammen umsatzsteuerbefreit sind, war der Plan perfekt!!« brüllt Manni Körber gegen das Kindergeschrei an und entbindet zwischen dampfenden Penne und einer Brokkolisuppe einen kerngesunden Knaben, wickelt ihn in ein Bananenpflanzenblatt und gibt ihn der verschwitzten Mutter an die Brust. Mit weiten Schritten begibt er sich herüber zu einem sterilen Metalltisch, auf dem gerade eine glückliche Familie den frisch gebackenen »Blumenkohl Hawaii« aus einem Bräter zieht. »Die Qualität der Entbindung ist in höchstem Maße fragwürdig, die haben eine Kindersterblichkeit wie im Mittelalter«, gibt ein satter und glücklicher Vater zu bedenken, »aber bei Gott, wie soll man sonst in Düsseldorf an eine authentische Steirische Kürbiscremesuppe kommen?«
Da beißen die Steuerprüfer auf Granit. Oder doch auf Kuchen? Um weiterhin nur 7 Prozent Mehrwertsteuer zu zahlen, gilt das »Lecker Törtchen Oldenburg« ab diesem Monat als Museum. Der Clou: Jedes Ausstellungsstück könnte grundsätzlich auch ein Backstück sein. Der Nachteil: oder ein splittriger Bilderrahmen aus dem Nachlass eines Kettenrauchers. Achtung: Speisen können Spuren von Tetanüssen enthalten!
Auf den Hund gekommen ist Rudis Raststätte schon weit vor der Neuausrichtung zum Anfang des Jahres. Denn: Tierhandlungen dürfen den ermäßigten Mehrwertsteuersatz zahlen – solange die Tiere lebendig verkauft und erst von den Kunden zubereitet werden. Seitdem gibt es vom Nagetier bis zum ausgewachsenen Rind alles, was das Schlemmerherz begehrt.
Von außen sieht das Eateasy in der Berliner Friedrichstraße aus wie eine gewöhnliche Kneipe im Stil der zwanziger Jahre, doch das täuscht: Hier wird auch Essen ausgeschenkt, allerdings im Geheimen und deshalb sehr leise, um der erhöhten Umsatzsteuer und der stündlich auf der Suche nach Vagabunden durch das Viertel patrouillierenden Polente ein Schnippchen zu schlagen. Wollen die Besucher*innen die mit der Mehrwertsteuermühle gepfefferten Preise umgehen, müssen sie das Codewort kennen (»Psssst!«). Außerdem ist der Verzehr lauter Lebensmittel wie Chips, Krustentiere und Panade verboten, und die Klospülung darf auch nach einer großen Mahlzeit nicht zu heftig bedient werden. Im Restaurant werden nur sehr leise Speisen wie Teufelseier, ungetoasteter Toast und Absinthsülze serviert, die zur Sicherheit ausschließlich unter dem Tisch und unter einer geräuschdämpfenden Decke verzehrt werden dürfen. Schmatzende Besucher*innen oder solche, die sich verschlucken und versuchen, durch einen Hustenanfall dem Erstickungstod zu entgehen, werden sofort erschossen (mit Schalldämpfer). Die Bezahlung ist kontakt- und geräuschlos möglich.
Einem bis heute gültigen Gesetzestext aus dem Kaiserreich sei Dank: Seit 1892 ist für alle »in Luftschiffen ausgehändigten Speysen keine Steuer zu entrichten«. Prompt werden die ersten Food-Zeppeline von der Leine gelassen, um die drakonische Mehrwertsteuererhöhung sehr langsam zu umschiffen. »Die Leute lieben es, in einen saftigen Hindenburger zu beißen und dabei den Blick über den Wannsee streifen zu lassen!« triumphiert Gastronom Wilhelm Friedrich vom neu eröffneten Szene-Gasthof »Zur Pickelhaube«. Das Business brennt!
Brinkmann/Maschuw/Mateus/Riegel/Sibbe, Fotomontagen: Martina Werner