Inhalt der Printausgabe

EIN FEST FÜR ALLE O(H)RGANE

Ein Besuch der sinnlichsten Van-Gogh-Ausstellung der Welt

Ein grauer Mittwochvormittag im März: Drei Redakteur:innen des TITANIC-Feuilletons steigen in Frankfurt-Heddernheim, jenem unscheinbaren Stadtteil, der für kurze Zeit zum kulturellen Zentrum der Mainmetropole avanciert, aus der U-Bahn. Hier irgendwo zwischen Lidl-Parkplatz und Müllheizkraftwerk muss sie sein, die »raumfabrik«, eine mondäne Eventhalle, die das multisensorielle Spektakel »Van Gogh Alive« beherbergt. Sogenannte immersive Ausstellungen sind der Museumstrend der Stunde. Anstatt die altbekannten Motive des Kunstkanons zum x-ten Mal im Original auszustellen, projiziert man sie auf enorme Leinwände. Sie werden animiert, musikalisch unterlegt und in Rauminstallationen verwandelt, kurz: neu gedacht. Weltkunst als sinnliches Mega-Event! »Es ist ein wahrhaftes Vergnügen für die Augen, die von Sonnenblumen, Sakura und Iris bedeckten Wände und den Boden des Saals anzuschauen«, jubelt die Süddeutsche Zeitung. Die Hessenschau lobt: »Hier wird van Goghs Kunst für fast alle Sinne erlebbar.« Doch wir wollen uns selbst von der Wirkung des »meistbesuchten multisensoriellen Erlebnisses der Welt« überzeugen und lassen uns von einem eleganten PVC-Banner zur »raumfabrik« führen.

Schon am Eingang werfen sich einzelne Besucher:innen vor der mannshohen Skulptur eines Ohres in Selfie- Pose. Augenzwinkernd wird die subtile Anspielung von der Allgemeinheit zur Kenntnis genommen. Das linke Ohr, das der Holländer sich im Wahn abschnitt, man weiß Bescheid! Schade, dass das raffinierte Werk von vereinzelten Banaus:innen als Regenschirmständer missbraucht wird.

Neben dem Kunstsinn werden auch unsere Wahrnehmungsorgane angesprochen: So entnehmen wir mithilfe unserer Augen einer Infotafel, dass die Luft der Ausstellungsräume »mit Sandelholz, Amber und Moschus, aber auch mit Zitrone, Zedernholz und Holz sowie mit Kardamom, Muskatnuss und Zypresse« angereichert ist. Düfte, die van Gogh beim Malen in Südfrankreich umwaberten. Geschickt werden sie mit dem Muff ungelüfteter Lagerhallen akzentuiert.

Ja, die Skulptur steht da wirklich.
Life imitates art imitates life.

Nachdem wir eine kurze Auszeit (Pausenbrote + Nickerchen in van Goghs Bett) in der Rauminstallation »Schlafzimmer in Arles« eingelegt haben, geht es in die Halle: van Goghs Werk als Slideshow auf unzähligen Leinwänden! Selbst Kinder sind vom Fluidum fasziniert und stecken, vielleicht zum ersten Mal an diesem Tag, ihre Handys in die Taschen. Visuelle Wobble- und Strudeleffekte erwecken die Gemälde zum Leben. Dazu donnern Vivaldis »Vier Jahreszeiten« aus den Dolby-Surround-Lautsprechern. Vincent van Gogh malte bekanntlich in allen vier Jahreszeiten – vermutlich gar mehrmals. Um der Naturverbundenheit des Künstlers Tribut zu zollen, sind viele Besucher:innen in Multifunktionskluft erschienen. Man ist sich einig: Würde der Wald-und-Wiesen-Maler heute noch leben, er und sein Bruder Theo trügen Jack-Wolfskin-Partnerjacken.

Dort, wo das Werk des Meisters nach Auffassung der Kurator:innen Lücken aufweist, werden Stockvideos von Sternenhimmeln und sich im Zeitraffer öffnenden Blüten eingeblendet. Dazu erscheinen feinsinnige Bonmots des niederländischen Virtuosen wie »Eines Tages wird uns der Tod zu einem anderen Stern bringen«. Spoiler: Leider sind sie nicht als Wandtattoo im Shop erhältlich – das bleibt, gottlob!, das einzige Haar in der Suppe. Van Gogh liebte lange Spaziergänge, was in der »raumfabrik« förmlich zu spüren ist. Obschon man die spektakuläre Halle nach einiger Zeit durchschritten hat, fühlt man sich durch die ständigen Bildwechsel an andere Orte getragen.

Weiter geht’s in den vollverspiegelten und sehr Instagram-tauglichen Sonnenblumenraum. Hier fühlen wir uns der Unendlichkeit nah wie nie zuvor. Und doch sind dezente Hinweise auf die Vergänglichkeit des Seins vorhanden: Einige der Blumen sind abgeknickt. Die dicken Staubflusen am Boden sollen natürlich auf van Goghs Armut anspielen. Er konnte sich zu Lebzeiten nicht einmal eine Putzkraft leisten.

Eat. Pray. Love. Paint.
Eindrücklicher Impressionismus
Die Spiegel regen zur Reflexion von Individuum und Moderne an.

Der Zeichenraum wirkt durch das sehenswerte Arrangement von Staffeleien und zwei Ultra-HD-Bildschirmen klassisch und modern zugleich. Wir lassen uns nicht lumpen und bemerken bei unseren Versuchen, dass Malen gar nicht so einfach ist, wie wir dachten. Hierbei kann sich endlich unser haptischer Sinn austoben: Das Ausstellungskonzept lädt dazu ein, die bereitliegenden Stifte anzufassen, einfach mal mit der Zunge über das glatte weiße Papier zu lecken oder ganz bewusst mit den Füßen über eine der vielen Absperrungen zu stolpern.

Zurück in den großen Raum, zurück in den Sog der bildgewaltigen Inszenierung. Doch die Ekstase findet ihr jähes Ende, als ein Schuss ertönt: Krähen flattern wild durch das leuchtende Gelb des Kornfelds, eines von van Goghs letzten Motiven, wie uns einfällt – eine sensible und zugleich leichtfüßige Anspielung auf van Goghs mutmaßlichen Suizid im Alter von 37 Jahren! Kurz darauf setzen wieder die »Vier Jahreszeiten« ein. Doch diese Szene bleibt nicht der einzige intime Einblick in van Goghs Innenleben, auch Besucher:innen, die sich gern tiefgehender mit den komplizierten Genieproblemen des Künstlers auseinandersetzen wollen, kommen nicht zu kurz. So ermöglicht ihnen eine Animation, die Vincents Briefwechsel und sonstige Schriften über die Leinwände flattern lässt, einen kompakten Überblick über sämtliche Texterzeugnisse des Begründers der modernen Malerei. Dauer: ungefähr fünfzig Sekunden, mehr braucht es dank modernster Technik nicht.

War van Gogh Putinversteher?
Liebe zum Detail: Echter französischer Staub
Video-Tutorials im Extrem-Zeitraffer begeistern den ADHS-Nachwuchs.
Ausnahmekunst trifft urbane Eleganz: Die »raumfabrik« in Frankfurt-Heddernheim
Im Bild: Zwei Genies, drei Ohren
 

Ebenso schnell verflogen sind die Gedanken an das Leid des geplagten Künstlers, als wir wenig später den Museumsshop betreten. Dank des lachhaften Eintrittspreises von 25 Euro können wir uns noch mit Van-Gogh-Mousepads und ‑Kühlschrankmagneten eindecken, toll!

Verzaubert und leicht benommen verlassen wir schließlich die »raumfabrik« in die seltsam flach wirkende Frankfurter Realität. Quelle tristesse!

Fazit: Die Macher:innen von »Van Gogh Alive« zeigen wunderbar die Unzulänglichkeiten von van Goghs Œuvre auf und beweisen, dass auch Klassiker der Kunsthistorie ein bisschen multisensorischen Wumms durchaus vertragen können. Van Gogh kann sich glücklich schätzen, dass seinem Werk hier neues Leben eingehaucht wird!

ACHTUNG!
TITANIC sucht preisgünstige Räume für die erste immersive Zonen-Gaby-Ausstellung. In dieser werden Sie von Bananendüften verzaubert, während Sie vor einer riesigen Gurke Selfies schießen dürfen.
Eintritt: 89,90 Euro!

Laura Brinkman / Leo Riegel / Martin Weidauer

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ein Vorschlag, Clemens Tönnies …

Ein Vorschlag, Clemens Tönnies …

Während Ihrer Zeit im Aufsichtsrat bei Schalke 04 sollen Sie in der Halbzeitpause einmal wutentbrannt in die Kabine gestürmt sein und als Kommentar zur miserablen Mannschaftsleistung ein Trikot zerrissen haben. Dabei hätten Sie das Trikot viel eindrücklicher schänden können, als es bloß zu zerfetzen, Tönnies!

Sie hätten es, wie Sie es aus Ihrem Job kennen, pökeln, durch den verschmutzten Fleischwolf drehen und schließlich von unterbezahlten Hilfskräften in minderwertige Kunstdärme pressen lassen können.

Aber hinterher ist man immer schlauer, gell?

Dreht Sie gern durch den Satirewolf: Titanic

 Hoppla, Berliner Gefängnischefs!

Drei von Euch haben laut Tagesspiegel wegen eines Fehlers der schwarz-roten Regierungskoalition statt einer Gehaltserhöhung weniger Geld bekommen. Aber der Ausbruch von Geldnöten soll durch einen Nachtragshaushalt verhindert werden. Da ja die Freundschaft bekanntlich beim Geld endet: Habt Ihr drei beim Blick auf Eure Kontoauszüge mal kurz über eine Ersatzfreiheitsstrafe für die nachgedacht, die das verbrochen haben?

Wollte diese Idee nur mal in den Raum stellen: Titanic

 Du, »Hörzu Wissen«,

weißt, wie Werbung geht! Mit »Die Sucht zu töten« machtest Du so richtig Lust auf Deine aktuelle Ausgabe, um erläuternd nachzulegen: »Bestialisch, sadistisch, rätselhaft: Was Menschen zu mordenden Monstern macht – acht Täter und die Geschichten ihrer grausamen Verbrechen.«

Wer kann sich da der Faszination der »dunklen Welt der Serienkiller« noch entziehen? Aber am Ende, liebe Hörzu Wissen, ist in diesem Zusammenhang doch die Implikation Deines Slogans »Hörzu Wissen – das Magazin, das schlauer macht!« das Allergruseligste!

Da erschauert sogar

Die True-Crime-resistente Redaktion der Titanic

 Ganz schön kontrovers, James Smith,

was Du als Mitglied der britischen Band Yard Act da im Interview mit laut.de vom Stapel gelassen hast. Das zu Werbezwecken geteilte Zitat »Ich feiere nicht jedes Cure-Album« hat uns jedenfalls so aufgewühlt, dass wir gar nicht erst weitergelesen haben.

Wir mögen uns nicht ausmalen, zu was für heftigen Aussagen Du Dich noch hast hinreißen lassen!

Findet, dass Provokation auch ihre Grenzen haben muss: Titanic

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Vom Feeling her

Es hat keinen Sinn, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Man muss sich schon auch mal hinter einem Baum verstecken und warten, dass die das nicht merken und an einem vorbeiziehen, sonst bringt das ja alles nichts.

Loreen Bauer

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 In Würde altern

Früher hätte mich der riesige Pickel mitten auf meinem Hals stark gestört. Heute trage ich den wohl niedlichsten ausgeprägten Adamsapfel, den die Welt je gesehen hat, mit großem Stolz ein paar Tage vor mir her.

Ronnie Zumbühl

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg