Inhalt der Printausgabe
Schopenhauers Hupen

Von Ella Carina Werner
Herrlich ist es, im Frühjahr durch die Straßen zu schlendern, im Ohr das hymnische Gelärme der Amseln und der Klang der Straßennamen, die ich beim Vorbeilaufen lese. Immer. Alle. Hölderlinstraße, Hindenburgdamm, Krischan-Kreibohm-Weg, Fritz-Flinte-Ring … Namen, die man wunderbar vor sich hin murmeln kann wie ein buddhistisches Ahnengebet. Große, schillernde Namen sind darunter, zum Beispiel George Grosz und Friedrich Schiller. Aber wer waren eigentlich Carl Bulcke, Peter Beenck oder Adolf Menge? Im Handy nachgeguckt: Alles klar, ein hitlertreuer Heimatdichter mit epigonalem Werk, ein unbedeutender Schiffbauer und ein Lokalpolitiker aus dem 19. Jahrhundert, welcher sich »in herausragender Weise« für diesen Stadtteil engagiert hat, insbesondere für die Benennung der längsten und zentralsten Prachtstraße nach seiner Person. Weitere Namensspender: Ärzte, Pädagogen, ein Großaufgebot an Geheimräten, waggonweise Wirtschaftsgrößen und eine Armada an Bezirksvertretern. Ich ging mal durch eine Straße, die nach einem stadtteilbekannten Schinken-Baron benannt war, und ich habe gehört, eines der Schilder ums Eck verweise auf einen Herausgeber wichtiger Formulare beim TÜV.
Viele Namensgeber waren schon zum Zeitpunkt der Straßenbenennung kleine Lichter, aber gut: Irgendwie musste man die abertausend Schotterpisten, Winkelgassen und Sündenmeilen ja bezeichnen, die im 19., 20. Jahrhundert in Windeseile hochgezogen wurden aus dem vormodernen Morast. Pflastersteine wurden in Moore und Wiesen gerammt, drüben am Eck öffneten bereits eine Kesselflickerei und ein Morphinisten-Stübchen ihre Pforten: Ja, wie nur soll diese Straße eigentlich heißen? Die zuständigen Bezirksvertreter kamen ins Grübeln. Neue Straße wäre eine starke Idee gewesen, oder Morphinistengasse. Oder warum nicht nach diesem einen preußischen General mit expansiven Ambitionen? Oder aber – nach Bezirksvertreter Dr. Wilhelm Heinze, der flugs errötete und die absolute Mehrheit der Stimmen erhielt. Was folgte: Riesenjubel, Gratulationen, ehe man den auserwählten Glückspilz standrechtlich erschoss, um den allgemeinen Grundsatz zu erfüllen, Straßen lediglich nach bereits verstorbenen Persönlichkeiten zu benennen.
So viele unbedeutende Namen finden sich unter den Straßenpatronen, dass es verwundert, dass nur sehr wenige Frauen darunter sind. Gerecht ist das nicht. Auch Frauen sollten auf den Schildern stehen! Mindestens 50 Prozent. Bedeutende, wichtige Frauen, klar, aber auch viele unbedeutende, ja besonders viele von diesen: massenhaft weibliche »Persönlichkeiten«, die keine Sau mehr interessieren. Gerechtigkeit muss sein. An Auswahl ist kein Mangel. Unbedeutende, wenig einflussreiche Frauen, die sich nie einen Namen gemacht, nicht in die Zeitläufte der Geschichte eingeschrieben haben, die ein paar nichtssagende Kunstwerke erschaffen oder sich für eine zweifelhafte Sache engagiert haben, zum Beispiel für die christliche Kirche, gibt es in der Geschichte nicht zu knapp.
Immer ein Eis mehr in der Hand: der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy und seine vier Jahre ältere, nicht minder begabte Schwester Fanny.
Wie gerne durchliefe ich zum Beispiel die Bertha-Budesius-Straße. Bertha Budesius, geb. 1867. Sie war Biertrinkerin. Niemand trank so viel und gerne Bier wie sie. Am liebsten kippte sie Schwarzbier mit schön dick Schaumkrone, diese Grande Dame des ungepflegten Suffs, dieses blond gelockte, zierliche Persönchen mit dem Fassungsvermögen eines finnischen Saunafasses. Auch für ihren Stadtteil hat sie eine Menge getan, vor allem trank sie das ganze Bier aus und machte die Schankwirte stinkreich. Ferner stiftete sie im Biereifer ihren Mitbürgern irgendetwas, ich glaube, eine gusseiserne Göbelrinne. Ja so war sie, diese hoch sympathische Sickergrube und hauptberufliche Salamikrämerin. Ja, Salamikrämerin, denn von irgendetwas musste sie das viele leckere Bier ja finanzieren. Außerdem schafft Wurst eine solide Trinkgrundlage und passt super zu Schwarzbier. Morgens fuhr sie ihre Ware aus dem Wurstlager mit einem hölzernen Handkarren durch die Straßen. Und nachmittags fuhr sie die Reste wieder zurück. Stark. Denn allein fürs Biersaufen sollte keine Namenspatronin ausgewählt werden, obwohl manch berühmter Auswanderer oder Stifter auch nur fürs Auswandern oder Geldgeben auserkoren wurde. Was aus der jungen, lebenslustigen Biertrinkerin wurde, ist nicht überliefert. Ich vermute, eine sehr alte, lebenslustige Biertrinkerin. Auf ihre Fähigkeiten bildete sie sich übrigens nicht viel ein, war bescheiden wie das Blümelein im Moose. Statt auf Nachruhm schwor sie auf Nachrum, und zwar direkt aus der Flasche.
Gerne durchschritte ich auch die Cäcilia-Rosalia-Meyerbrook-Straße, benannt nach der keineswegs stadtbekannten Bürgersfrau und Lyrikerin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In ihrer reichlich bemessenen Freizeit verfasste sie leicht pikante Sonette voll stark behaarter Wald- und Wiesentiere, die irgendetwas miteinander »thaten«, wobei es die Künstlerin verstand, alltägliche Themen mit großen, gesellschaftspolitischen Sachverhalten kein bisschen elegant zu verknüpfen, wenn sie »Schniepel« auf »Bismarck-Archipel« reimte. Von früh bis spät schrieb sie Gedichte. Na ja, von so früh bis so spät nun auch wieder nicht, eigentlich eher von spätvormittags bis zum Nachmittag, oder ein Viertelstündchen nach der ausgedehnten Mittagspause. Jeden Samstagabend gab sie ihre Poeme in ihrem »Privatsalon« zum Besten, d.h. vor den überhaupt nicht applaudierenden Händen ihres gelangweilten Gatten. Aussage- und Symbolkraft ihrer Gedichte waren »der Meyerbrook« übrigens piepegal, ja vollkommen wumpe. Ihre literarischen Ergüsse waren epigonal, ja komplett miserabel, aber das waren die der Herren Carl Bulcke, Hermann Löns oder Heinrich Böll bekanntlich auch.
Ehrgeiziger war da schon die Mädchenschullehrerin Waltraut Woelkel, 1893–1969, Vorsteherin einer kleinen, lichtlosen, leicht schimmeligen Mädchenschule. Sogar eine eigene, rustikale Frühpädagogik hat sie geschrieben, und zwar hinter die Löffel ihrer begriffsstutzigen Zöglinge. Ihre Tage brachte die ambitionierte Antireformpädagogin damit zu, neue Eselsbrücken zu ersinnen und Ohren langzuziehen, am liebsten ihre eigenen, um dem weiblichen Schönheitsideal ihrer Zeit zu entsprechen. Ja, pflichteifrig und nimmermüde war die Gute, vor allem nachts, wenn sie flammende Bittbriefe an die Stadtvorderen schrieb, wann denn endlich, endlich eine Straße nach ihr benannt werde, wo doch selbst dieser Trottel Rudolf Steiner mittlerweile eine hatte. Jesusmaria, irgendeine frische, jungfräuliche Straße werde sich doch wohl finden! Aber bitte keine dieser armseligen Kackstraßen ohne Mittelstreifen und nächtlichem Laternenglanz, mit der verdiente Literatinnen wie Vicki Baum abgespeist wurden. »Alles, alles täte ich dafür tun!« schrieb sie über Jahre, Jahrzehnte in Schönschrift mit ihrem eigenen Blut, nur keinem dieser aufgeblasenen Bezirksvertreter »die Fleischtrompete blasen«, denn erstens halte sie nichts von solcherart Trompeten und zweitens nichts von strunzdummen Frauenklischees.
3 in 1: Dieses Bild der Deutschen Presse-Agentur symbolisiert wie kein zweites den Niedergang des Sozialismus, des Patriarchats und der »Szenestadt« Berlin.
Erhört wurde Waltraut Woelkel nie. Das ist heute anders. Mittlerweile gibt es im ganzen Land etliche wackere Initiativen, die sich erfolgreich für sog. Frauenstraßen einsetzen. Irgendwo wird immer noch eine Neubaustraße für eine streitlustige Baugemeinschaft aus dem Waldboden gezimmert oder eine altgediente Straße umbenannt. Manchmal ist es ganz leicht, Stichwort »Umwidmung«. Hinter jede Lessingstraße ließe sich mit Edding in Klammern »Doris« schreiben. Oder Schopenhauer (Johanna): Zu ihren Lebzeiten war diese selbstbewusste Diva der deutschen Novelle (»Ich habe niemals von zweien Genies innerhalb einer Familie gehört«) um einiges berühmter als ihr anhänglicher, leicht stumpfsinniger Sohn. Ja, sind denn die zahllosen Schopenhauerstraßen wirklich alle für ihn?
Schnell voran geht es mit den Frauenstraßen bislang nicht. »Bei jetzigem Tempo wäre ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis im Jahr 2773 erreicht«, errechnete die Süddeutsche Zeitung. Kürzlich jedoch habe ich von einer progressiven stadtplanerischen Praxis gehört: Lange Straßen in kürzere Abschnitte zu unterteilen. Eine weise Idee von salomonischer Wucht. So lassen sich alle namentlich verwursten: Aberhunderte Nonnen, Kuppelweiber, Trümmerfrauen, Wäscherinnen, die Ehefrauen der Geheimräte und die besten Freundinnen der Ehefrauen der Geheimräte auch. Zum Beispiel könnte man die zahlreichen, monströs langen John-F.-Kennedy-Straßen und Willy-Brandt-Alleen in Dutzende Ministraßen zerlegen, für jede ihrer Bumsfreundinnen eine.
Zudem lassen sich Namen bündeln. Wie gerne wandelte ich in Berlin durch die »Allee der Kosmonautinnen Valentina Tereschkowa, Swetlana Jewgenjewna Sawizkaja und Jelena Kondakowa«. In Ungarn promenierte ich mit Freuden über den Blutgräfin-Báthory-Boulevard, in der Schweiz übers Beatrice-Egli-Wegli und in Deutschland über die Andrea-Nahles-Allee. Ja, Nahles ist noch nicht tot, aber immerhin politisch. Eine mehrspurige Prachtstraße mit atemberaubenden Serpentinen in der norddeutschen Tiefebene würde der gefallenen Sozialdemokratin gut stehen, oder eine dieser mecklenburgischen Todesalleen, zwischen den himmelhohen, knorrigen Eichen Hunderte schauriger Kreuze.