Inhalt der Printausgabe

Die Katastrophen-Vorschau 2022

Im vergangenen Jahr haben uns spannende Desaster immer wieder beste Unterhaltung beschert. Von einem Containerschiff, das den Suezkanal blockiert, über einen im Flutgebiet in Gelächter ausbrechenden Kanzlerkandidaten der Union bis hin zur untot aus dem modrigen Grabe auferstehenden SPD. Vieles davon kam so unerwartet wie die vierte Corona-Welle. Doch 2022 wird das ganze Drama sogar noch getoppt. Und mit diesem Guide verpassen Sie garantiert keine einzige Katastrophe!

INFLATION

Seit Monaten berichten internationale Medien über die galoppierende Inflation. Es gibt Preissteigerungen noch und nöcher, und die Heizungskosten schlagen ein zugiges Loch durch die Decke. Ganz Europa ist zu Silvester von General Frost besetzt. Ganz Europa? Nein! Ein mittelgroßes Land im Herzen des Kontinents (Deutschland) trotzt den Kräften des Marktes und garantiert seinen zivilisierten Bürgern einen behaglichen Jahreswechsel im Warmen. Doch gleich im Januar setzt sich dann auch hierzulande der Sinn für die Realität durch. Mit der Verschickung der Nachzahlungen für Strom und Gas bricht erste Panik aus. Menschenschlangen warten vor den großen Modeketten, um ihre umgetauschten Weihnachtspullover wieder zurückzutauschen. Doch die sind zu großen Teilen längst in der chilenischen Atacama-Wüste »deponiert« und lassen es sich bei klarem Himmel, praller Sonne und einem »Caipi« gut gehen. Die deutsche Bevölkerung aber ist in der Coronapandemie überraschend krisenfest geworden. In den Stuben werden jetzt die im Frühjahr vor zwei Jahren gehamsterten Maxi-Packungen Klopapier hektoliterweise mit Desinfektionsmitteln getränkt und in den Holzöfen verfeuert. Warnungen Karl Lauterbachs (SPD) bei Anne Will (NDR) vor den dabei inhalierten gigantischen Feinstaubmengen treiben bibbernde Familien noch näher an den Kamin. Besonders rührselig: Mit der neuen Heimeligkeit vergessen die Menschen schon bald ihre sinnlosen Streitigkeiten darüber, wer jetzt genau die Großeltern über Weihnachten trotz Kontaktbeschränkungen fahrlässig mit Corona infiziert und ihnen einen langen, schmerzhaften Tod durch Ersticken beschert hat. Das Land rückt in diesen Tagen enger zusammen. Alle ungerechten Unterschiede zwischen den Menschen werden nivelliert. Wirklich jeder im Land leidet nun an akuter Atemnot und einer dermaßen pfeifenden Lunge, dass man damit eine Partie der Bundesliga managen könnte. Für einen wunderschönen Moment fühlt es sich an, als wäre der Sozialismus nie näher gewesen.

KLIMA

Wer hätte geahnt, dass Feinstaub den Klimawandel antreibt? Im April ist es noch immer so dunkel wie im Februar. Das liegt an den am Himmel stehenden Wolken aus Ruß, Asche und Schwefelaerosolen. Immerhin warm ist es geworden, denn der schwebende Schmodder verhindert das Abstrahlen von Sonnenenergie zurück in den Weltraum. Die Übergangsjacke wird dieses Jahr einfach übergangen. Beim von Wirtschaftsminister Robert Habeck angeordneten verpflichtenden Bundesarbeitsdienst zum Auflesen der verkohlten Papierfetzen, die überall verstreut herumliegen, kommen die Menschen wieder in Kontakt mit Mutter Natur. Inzwischen hat es jedoch auch der letzte Idiot gemerkt: Das 1,5-Grad-Ziel ist verloren. Viele richten sich jetzt nach dem Motto »Ist das Klima erst ruiniert …« ein – machen also genau so weiter wie bisher. Fick dich selber, Greta! Die Deutschen entdecken ihre Reiselust neu und düsen an die weißen Strände von Karibik bis Polynesien. Zumindest an diejenigen, die noch nicht durch Sturmfluten ins Meer gerissen wurden. Inzwischen bieten lokale Guides ganz offen sogenannte Elendstourismus-Touren an. So können wir interessante Hungersnöte, Ausbrüche von Malaria und Dengue-Fieber, kleinere Bürgerkriege um letzte Wasserreservoirs und die fortschreitende Slumisierung von Millionen vor Ort beobachten. Alte Steine, die von vergangenen Untergängen und zerschlagenen Reichen zeugen, braucht keine Sau zu sehen. Der Weltuntergang ist JETZT, und wir sind live dabei. Zumindest gilt das für die beliebtesten Urlaubsziele der Deutschen im Jahr 2022: die authentisch-elendigsten Teile der im Zeichen triumphalen Unheils strahlenden Erde. Die gute Stimmung kippt erst, als die Bundeswehr es im Hochsommer verbockt, Touristen rechtzeitig vor mit Chemikalien, Feuerwerkskörpern und ganzen Uranminen durchmischten Schlammlawinen zu evakuieren.

KULTUR

Auch kulturell bringt das Jahr 2022 Umbruch, Fortschritt und Anpassung an die Zeichen der Zeit. In der Baukunst ist Holz als Baustoff zurückgekehrt. Auch wird wieder vermehrt unterirdisch gewohnt. Dadurch erhoffen sich die Menschen nicht nur eine bessere Effizienz in der Wärmedämmung und geringere Heizkosten im Winter, sondern auch besseren Schutz vor radioaktiver Strahlung und toxischen Pilzsporen. Zur Wiederaufnahme des Regelbetriebs in den Schulen und Hochschulen kommt endlich das lange erwartete Gender-Verbot. Das vom FDP-Bildungsminister Dieter Hallervorden ausgesprochene Dekret hat eine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich und wird als Rückkehr zu einer gestalterischen Politik nach den Monaten der Krise begrüßt. Gendern in Klassenarbeiten gilt nun nicht nur als Fehler, sondern wird auch in die kurz darauf vom Bundestag verabschiedete Reform des Sexualstrafrechts aufgenommen. Doch das ist nur ein beispielhafter Ausschnitt aus dem rasanten Wertewandel, den die ganze verbliebene Gesellschaft durchmacht. In der Mode kehrt die Melone auf den Kopf zurück. Schlaghosen sind nach ihrem Revival der letzten Jahre hingegen schon wieder out. Oberlippenbärte, von dünnen Hipstermännern ursprünglich Ende der 10er Jahre als Provokation erdacht, sind jetzt Mainstream und bei den Erfindern plötzlich gar nicht mehr in. Nach der Zwangseinführung künstlicher Motorengeräusche in der Elektromobilität zur Stabilisierung der Unfallzahlen mit Personenschäden differenziert sich der Sound der Straße weiter aus. Kfz-Werkstätten bieten individuell wählbare, elektronische Klanginstrumente als Outputfilter der E-Auto-Lautsprecher zur Umrüstung an. Dadurch klingt ein vorbeifahrendes Auto im Sommerloch 2022 wie eine Staffel imperialer Tie-Fighter auf maximalem Schub.

CORONA

Wir nähern uns dem Herbst 2022. Die Inzidenzen sind so niedrig, dass in diesem Jahr keiner mehr so recht an eine sechste Welle (nach der fünften im Frühjahr) glauben mag. Berichte über eine neue, gefährliche Corona-Mutante aus dem kambodschanisch-myanmarischen Grenzgebiet beunruhigen noch niemanden – wurden in Deutschland doch erst wenige Fälle der von der Weltgesundheitsorganisation offiziell »Omega« getauften Variante registriert. Im Inland verspritzen Ärzte gerade die vierte Auffrischungsimpfung an 50 Millionen Willige, während quer durch die neuen Bundesländer Freischärler der Volksrepublik Sachsen (offiziell: Саксо́ ния народная республика) mit Grenzsicherungsarbeiten begonnen haben. Unterstützt werden sie dabei von mysteriösen Söldnern, die keine Hoheitsabzeichen, dafür allerdings Boden-Luft-Raketen und Flammenwerfer tragen, die sie gegen umherstreifende Horden von »Omega«-Infizierten einsetzen. Die Regierung plant, im November die auslaufende epidemische Lage von nationaler Tragweite auch mit Blick auf eine drohende gesellschaftliche Spaltung nicht aufs Neue zu verlängern. Viele freuen sich jetzt auf den baldigen »Freedom Day«. Gute Nachrichten kommen auch von den Wirtschaftsweisen des Landes: Die Rente ist sicher! Durch die Ausdünnung breiter Bevölkerungsschichten jenseits der Marke »Ü30« hat sich die Bevölkerungsstruktur wieder der aus dem späten 19. Jahrhundert bekannten, wirtschaftlich vorteilhaften Pyramidenform angenähert. Dazu passt, dass der Langenscheidt-Verlag Ende Oktober »OK Gen Y« zum Jugendwort des Jahres wählt.

POLITIK

Der moralische Unterdruck, der in der Politik in den vergangenen drei Jahren entstand, zeigt in den Sternen bereits eine ungewöhnliche Konstellation im Canis Minor. Darum liegt die Wahrscheinlichkeit für ein kosmologisch besonderes Ereignis bereits Anfang Dezember 2022 bei über 87 Prozent. Spätestens Weihnachten werden sieben der neun unteren dämonischen Sphären in die Ebene der materiellen Existenz stürzen und an den Schnittpunkten Portale des Übergangs entstehen. In der Folge setzen Asmodäus, Baal und/oder Belial mit dämonischen Armeen in unsere Breitengrade über und richten ein heilloses Durcheinander an. Nicht cool! Doch Hilfe naht: Das gravitatorische Ungleichgewicht der Sphären und Ebenen zieht binnen kürzester Zeit das Hinabdonnern größerer Segmente des Himmelreiches nach sich. Dadurch lassen sich die Engelscharen, die wegen der Schräglage in unsere Welt gepurzelt sind, als militärische Verbündete gegen die brandschatzenden und raubmordenden Dämonenbanden gewinnen. Um im diplomatischen Kuhhandel zwischen den exodimensionalen Fraktionen nicht unterzugehen, hatten sich die Ampel-Koalitionäre bereits 2021 auf die Anschaffung bewaffneter Drohnen verständigt – freilich, ohne den wahren Grund bekannt zu geben. Man wollte die Bevölkerung nicht unnötig verunsichern. Mit der dann zur Verfügung stehenden Staffel »Heron 2« können sich mittlere und höhere Dämonen im bundesdeutschen Hinterland unter gezielten Beschuss nehmen lassen. So werden die Kommandostrukturen der dunklen Truppen durcheinandergebracht. Aus Koalitionskreisen ist zu vernehmen, dass Lockdowns während der Kampfhandlungen aufgrund jüngster Gerichtsurteile bereits als unverhältnismäßig ausgeschlossen werden, so dass nicht nur Fantasy-Fans voll und ganz auf ihre Kosten kommen und das Gemetzel aus nächster Nähe beobachten dürfen.

Jeja Klein

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ob das eine gute Idee ist, British Telecommunications?

Als einer von Großbritanniens größten Kommunikationsdienstleistern betreibst Du unter anderem die berühmten roten Telefonzellen, die allerdings außer für Lösegeldforderungen und Rauschmitteldeals keinem Zweck mehr dienen. Darum hast Du nun angekündigt, die pittoresken Blickfänger für einen symbolischen Betrag den britischen Kommunen zu verkaufen, damit diese einen neuen Verwendungszweck für sie finden. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis wir lesen werden, dass die Tories die erste Telefonzelle in eine Mehrbettunterkunft für Geflüchtete umgewandelt haben.

Orakeln Deine politischen Hellseher/innen von Titanic

 Huhu, hessische FDP!

Zunächst hatten wir es ja auf das Unwissen des jungen Kandidaten bei uns im Viertel geschoben, aber spätestens zur Septembermitte dann verstanden, dass Dein eminenter Powerslogan für die gesamte hessische Landtagswahl tatsächlich »Feuer und Flamme für Hessen« lautet. Anschließend hatten wir gedacht, Ihr wärt vielleicht allesamt zu dumm oder unbelesen, um zu wissen, dass »Feuer und Flamme für diesen Staat« seit den frühen achtziger Jahren ein beliebter Schlachtruf von Linksradikalen und Autonomen war, gerade in Hessen, wo die Kämpfe um die Startbahn West blutig eskalierten.

Aber Du, FDP, hast den Slogan gewiss mit Bedacht und einem kräftigen Augenzwinkern gewählt, denn Du besitzt ja auch einen anarcho-libertären Flügel, der jede staatliche Ordnung abschaffen und alle Belange vom Markt regeln lassen will, also vom Gesetz des Stärkeren.

Und dass Du diese gewaltversessenen Hooligans zur Wahl noch mal vor unseren inneren Augen durch die Straßen Frankfurts marodieren lässt, dafür danken Dir die gesetzlosen Chaot/innen von der Titanic

 Grüß Dich, Stachelbeere!

Von Dir dachten wir bisher, wir wüssten einigermaßen Bescheid. Keine Ahnung hatten wir! Bis wir die NZZ in die Hände bekamen: »Die Stachelbeere galt lange als spießigste aller Sommerbeeren.« Wie konnte das an uns vorbeigehen? »Im Gegensatz zu ihrem Namen tut ihr Stachel gar nicht weh.« Toll, Du bist die erste Beere der Naturgeschichte, deren Name wehtut. »Stachelbeeren werden geputzt, indem der Stiel und die Blütenenden mit einer Küchenschere abgeschnitten und dann kurz mit Wasser abgebraust werden.« Dann sind zwar Stiel und Blütenenden nass, aber wie wirst Du davon sauber? »Der Gaumen erinnert sich beim Verspeisen an einen süßen Sirup, der als Kind besonders gut geschmeckt hat.« Außer, der Gaumen ist etwas zerstreut und hat vergessen, dass der Sirup mal ein Kind war.

»Stachelbeeren haben einen schönen Knack.« Wir aber haben jetzt einen schönen Knacks, Stachelbeere, nämlich einen Stachelbeeren-Knacks, und rühren Dich bizarres Früchtchen auf keinen Fall mehr an. Oder zumindest nicht die NZZ-Kulinarikseiten. Die machen nämlich Sodbrennen.

Stichelt gern: Titanic

 Erinnerst Du Dich, Adobe,

an das Titelbild unserer letzten Ausgabe? Wir nämlich schon, und da fragen wir uns glatt, ob Du neuerdings die Betreffzeilen für Deine Werberundmails ungeprüft vom Digitalisierungs-Ausschuss der AfD übernimmst!

Nichts für ungut. Titanic

 Haha, Daniel Günther!

Haha, Daniel Günther!

Sie haben tatsächlich im Juni dieses Jahres auf der Kieler Woche »Layla« mitgegrölt? Auf der Bühne euphorisch »Schöner, jünger, geiler!« ins Mikro gejohlt? Also unsereins hat ja schon eine lange Leitung, wenn uns das bis jetzt entgangen ist. Aber mit einer solchen Verzögerung und mit beiden Beinen ins Vorjahres-Fettnäpfchen zu springen, da können wir nicht mithalten – Chapeau!

Rechnen mit einer Reaktion in zwei bis drei Werkjahren:

Ihre Puffmütter von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 After-Life-Hack

Auf meinem Organspendeausweis ist vermerkt, dass ich posthum nur ausgeschlachtet werden darf, wenn mein Ableben, egal wie mysteriös, blutrünstig, effektvoll, erheiternd, generationenkonfliktelösend, krebsheilend oder die messianische Zeit einläutend es auch stattgefunden haben werden mag, niemals in einem True-Crime-Podcast vorkommen darf.

Sebastian Maschuw

 Präzision

Fine-Dining-Restaurants schließen nicht, sie fermétieren.

Ronnie Zumbühl

 In between lifestyles

Silberner BMW, quer über die Heckscheibe der Schriftzug »Moskovskaya«, vorn auf der Ablage: Anwohner-Parkausweis Nr. 05.

Frank Jakubzik

 Rentner mit Humor

Ich bin im Bus für einen deutlich Jüngeren aufgestanden.

Uwe Becker

 Verödungsalarm

Deutliches Zeichen dafür, dass ein Ort langsam stirbt: Wenn im kommunalen Veranstaltungskalender eine Blutspende-Aktion unter »Events« angekündigt wird.

Jürgen Miedl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
08.10.2023 Frankfurt, Elfer Hauck & Bauer mit Julia Mateus
08.10.2023 Berlin, BAIZ Katharina Greve
10.10.2023 Cuxhaven, Ringelnatz-Museum Thomas Gsella
10.10.2023 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview«