Inhalt der Printausgabe

Sprechen wir über Monet

von Ella Carina Werner

Seit ein paar Jahren gibt es spezielle Zahnärzte für Menschen mit übergroßen Zahnarztängsten. Warum nicht. Es gibt auch spezielle Fahrschulen für Menschen mit Fahrängsten. Es gibt auch Kreißsäle für Frauen mit übergroßen Entbindungsängsten. Die erste Besonderheit daran: Zu Beginn gibt es zwischen Angstpatient und Zahnarzt ein unverbindliches, ganz entspanntes Vorgespräch »von bis zu 30 Minuten«. Ein erstes Kennenlernen, ohne dass es gleich um das Thema Zähne ginge, lese ich auf der Internetseite einer der führenden Trauma-Zahnarztpraxen.

30 Minuten sind eine sehr lange Zeit. In 30 Minuten haben die US-Amerikaner den Russen Alaska abgeschwatzt. In Sitzungen à 30 Minuten haben Goethe und Eckermann das Wesen wahrer Dichtung aufgedeckt und wieder zugedeckt, damit sich andere nicht daran vergreifen. In 20 Minuten haben Kohl und Gorbatschow die deutsche Einheit beschlossen und danach noch zehn Minuten Zeit für einen Plausch über kaukasischen Vodka gehabt. Für manche Menschen mag die Vorstellung, mit einem wildfremden Weißkittel bis zu 30 Minuten über irgendwas zu plaudern, albtraumhafter sein als eine Wurzelbehandlung, mir jedoch gefällt dieser Programmpunkt richtig gut.

Da sitzt man sich in zwei Ohrensesseln gegenüber, in diesem weitläufigen, geschmackvoll eingerichteten Altbauzimmer. Eichenholzdielen, Aromalampen, zahllose lustig-klecksige Gemälde von Kinderhand, von den Fußleisten bis zum Stuck: Die Praxis sieht natürlich gar nicht aus wie eine klassische Zahnarztpraxis. Keine mintgrünen Wandbanderolen, keine liebeleeren LED-Leuchten, keine graphischen Darstellungen von Zahnwurzel-Silhouetten und kein einziger Kunstdruck von Rosina Fucking Wachtmeister, deren Goldpapier-Katzen einen mitleidlos angrinsen. Es soll Menschen geben, die ihre Zahnarztphobie allein aufgrund der Wachtmeister-Katzen haben. Im Nebenzimmer, hinter der geheimnisvollen Flügeltür, mögen sich Hammer, Meißel und ein Satz rostiger Daumenschrauben befinden, doch hier und jetzt ist’s urgemütlich wie in einer gepflegten Ü-40-WG.

Auch der Trauma-Zahnarzt ist natürlich gar kein Halbgott in Weiß, sondern bekleidet mit einem quietschbunt gemusterten Zopfpulli, zerrissenen stonewashed-Jeans, Torsten-Sträter-Mütze, Bauchtasche und silbergrauer Undone-Frisur, kurz, so salopp und angstlösend wie möglich. Er startet eine Gesprächsouvertüre von dialogischer Wucht: »Halli hallo! Wie geht’s?«

Zur Belohnung gibt es in einfühlsamen Praxen Kaugummi aus der Tube.

Er kennt sie, die Situation. Er lächelt milde hinter seinen alten Äuglein mit den verspielten Tränensäcken. Er kennt alle Abgründe der Menschen (es sind sechs). Er hat bereits Patienten in Ohnmacht fallen sehen, Oberstudienräte weinen, Betonbauer nach Gott rufen, Konditorinnen sich vor Angst einnässen, Tätowierer türmen und Zahnarzthelferinnen splitternackt um Liebe winseln, letzteres aber nur auf DVD. Er kann mit den Lippen lustige Furzgeräusche machen, um die ein oder andere peinliche Gesprächspause zu überbrücken. Er weiß, wie man 30 Minuten vertrauensvoll füllt.

Zunächst werden ein paar Belanglosigkeiten über das Wetter und aktuelle Sportereignisse ausgetauscht, das muss so, das gehört dazu. In routiniertem Plauderton erkundigt er sich, ob man gut hergefunden hätte, wie einem das Wetter zusage, die Parksituation in den Innenstädten, das neue Album von Adele und der Krieg im Jemen, während er mit großer Geste seinen ersten Zigarillo entzündet, in Angstpraxen ist das erlaubt.

Natürlich hat er noch nie ein Lied von Adele gehört, ist ihm Adele zu unterkomplex. Der Mann hat einen Doktortitel in Dentalpsychose, aber weiß, was den Durchschnittsdeutschen hier und heute bewegt.

Er bietet seinem Dialogpartner einen ersten Zigarillo an. Er versucht herauszufinden, wer man als Mensch so ist: »Wer sind Sie als Mensch denn so?« hakt er nach, gerne auch mithilfe einfacher Frage-und Antwort-Spiele. Hund oder Katze, Bahn oder Pkw, Monet oder Manet, Kleber oder Sievers? Bei allen Antworten hört er aufmerksam zu, wobei seine Ohrmuschelhaare vor Aufmerksamkeit erzittern, während er bei den Vokalen a und e kaum merklich in die Mundhöhle seines Gegenübers linst.

Nach zehn Minuten dann, klar, die großen gesellschaftlichen Fragen. Deutschland, ja oder nein? Nato, ja oder nein? Affenfleisch, ja oder nein?, wobei er zu allem stets eine moderate, differenzierte Position einnimmt. Ferner die Top-Themen Plastikmüll in Ozeanen, Fracking, Gender-Gaga und Nagellack für den Mann; alles reißt der Powertalker an, alles will er, paff-paff, wissen, derweil er zwei Kristallgläser mit Gin anfüllt, und das nicht zu knapp. Ob man wisse, dass in Vorderindien Alkohol bis ins 20. Jahrhundert bei OPs als beliebtes Narkosemittel eingesetzt wurde, baut er einen hübschen Fun Fact ein, ehe er wie beiläufig eine Fabel von einem ängstlichen Hasen erzählt. Ja, so angsterfüllt und bekümmert sei dieser Meister Lampe, dass er sich regelmäßig vor Angst einscheiße, dann jedoch allerlei Abenteuer erlebe und am Ende erkenne, dass man im Leben doch keine Angst haben muss, solange man mit hoch erhobenen Löffeln durch die Welt hoppelt, einen fachkundigen Gefährten sowie ein paar schmackhafte Allgemeinanästhetika zur Seite hat und sich nicht so anstellt. Der Dentaltherapeut zwinkert seinem Gesprächspartner zu. Paffpaff … auf seiner Stirn bildet sich eine bedeutsame Falte des Grübelns. »Angst liegt nie in den Dingen selbst, sondern darin, wie man sie betrachtet«, erklärt er, einen indischen Jesuitenpriester oder George Clooney zitierend. Flink zieht er seinen linken Hausschlappen aus, rollt eine 3-Fragezeichen-Motivsocke herab und sticht, ein lustig Lied (»Fearless« von Taylor Swift) auf den Lippen, mit einer herumliegenden Büroklammer eine seiner ekelhaft stinkenden Dornwarzen auf, um die eben genannte These zu untermauern.

Na gut, räumt er schließlich ein, viele Menschen hätten im Leben ein paar Ängste, ob Goethe vor Höhen oder Darwin vor Schlangen, und gesteht mit Flüsterstimme seinen eigenen, wiederkehrenden Albtraum: Er renne, das Klassenbuch unter dem Arm, mit nichts bekleidet als zwei ungleichen Socken, durch seine alte Schule und finde den Vertretungsplan nicht mehr.

Berühmter Trauma-Zahnarzt in seiner Praxis.

»Sehen Sie dieses Bild?« ruft er auf einmal aus. Sein silbergrau behaarter Zeigefinger weist geradewegs hinter den Patienten – d.h. hinter Sie, wenn Sie sich in diese Gesprächssituation als wackeres Gegenüber hineinfühlen mögen, was Sie unweigerlich längst tun. Sie betrachten die ungelenke Menschengestalt auf dem Bild, Acryl auf Leinwand: die stümperhaften Körperproportionen, fast wie Keith Haring, aber mit comichaft geweiteten Augen und expressiv aufgerissenem Mund.

Das Gemälde sei, der Trauma-Zahnarzt schlägt die Augen nieder, natürlich gemalt von ihm selbst. Genau wie das Gemälde daneben. Und dieses dort, und alle anderen auch! Seine rot geäderten Äuglein beginnen zu funkeln. Er klettert aus seinem Ohrensessel, nicht ohne sich noch einen guten Schluck Gin nachzuträufeln, und schreitet die Wände entlang, auf dieses und jenes Meisterwerk verweisend. Ob man das Herzstück, das wiederkehrende Grundmotiv erkenne, die monumental ausgearbeiteten Münder, zwischen Angst und Freude oszillierend? Genre, klar: Naive Malerei, aber absichtlich, aus vollem Wissen und Könnerschaft heraus, ruft der Connaisseur und entzündet zwei weitere Zigarillos zugleich, so erregt ist er. Dann öffnet er den Deckel einer Holztruhe und zieht eine großformatige Mappe mit 217 weiteren Bildern heraus: »Mein Portfolio!« gellt seine Stimme, dass es vom Deckenstuck widerhallt. Der Mann ist doch ein Sadist. Minutenlang fachsimpelt er über Farbkontraste, Schattenwürfe und diese eine Studiosus-Bildungsreise nach Chile.

Klopf, klopf: Eine Zahnarzthelferin schiebt den Kopf durch die Tür. Auch sie ist vertrauensvoll gekleidet: Dirndl, Strickstulpen und Hundepuschen. Sie flüstert, 30 Minuten seien bereits um, der nächste Plemplem-Patient stehe … »Raus!« wedelt der Dentalkünstler mit der Hand. »Nur noch fünf Minuten«, bettelt er. Fünf Minuten, in denen er seinem Gesprächsgast noch eine außereheliche Affäre und seine Liebe zu Bon Jovi eingesteht.

Dann ist die Sitzung vorbei. »Nächsten Dienstag, drei acht oben, Wurzelbehandlung. Natürlich unter Vollnarkose«, lallt der Zahnarzt, sich mit einer Hand im Türrahmen festhaltend, mit der anderen winkend, dem Patienten hinterher.

Das ist die zweite Besonderheit in diesen Praxen: Alle, aber auch wirklich alle Behandlungen sind unter Vollnarkose möglich. Ein Konzept, das auch in anderen Lebenssituationen zu begrüßen wäre. Die klassische Komplettbetäubung muss ja nicht immer gleich sein, aber schön leicht annarkotisiert, richtig gut bedöselt, ginge einiges im Leben leichter, zum Beispiel Nachbarschaftstreffen, Kirchgänge, Maybrit Illner gucken und das ein oder andere Rendezvous. Die Trauma-Zahnärzte haben recht: Alle Menschen haben ihre Ängste, und dieser sollte man sich annehmen, unbedingt. Es müsste gesonderte Gefängnisse für Menschen mit übergroßer Gefängnisangst geben. Es müsste Hochzeits-Arrangements für Menschen mit übergroßer Bindungsangst geben oder Tanzveranstaltungen für Menschen mit übergroßen Menschenängsten.

Es gibt eine Tanzveranstaltung für Menschen mit übergroßen Menschenängsten. In Mittelfinnland, in Kuusamo, unweit der russischen Grenze, in der örtlichen Diskothek. Nur wenige Gäste sind auf der übergroßen Tanzfläche erlaubt, der Eintritt ist nicht von Pappe und jeglicher physischer Kontakt wie Paartanz und Pogo verboten. Es soll sehr schön sein dort. Wie einsame, ankerlose Bojen trudeln die ausgehfein gewandeten Soziophobiker wonnetrunken über die Tanzfläche, nicht wenige auch stockbesoffen, was der allgemeinen Körperdisziplin aber keinen Abbruch tut, und das ist in Zeiten wiederkehrender Kontaktbeschränkungen durchaus auch ein bisschen Avantgarde.

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Bild.de!

»Springer hatte im Januar bundesweit für Entsetzen gesorgt«, zwischentiteltest Du mit einem Mal überraschend selbstreferenziell. Und schriebst weiter: »Nach der Enthüllung des Potsdamer ›Remigrations‹-Treffens von AfD-Politikern und Rechtsextremisten postete Springer: ›Wir werden Ausländer zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimnis. Das ist ein Versprechen.‹« Und: »In Jüterbog wetterte Springer jetzt gegen ›dahergelaufene Messermänner‹ und ›Geld für Radwege in Peru‹«.

Dass es in dem Artikel gar nicht um Dich bzw. den hinter Dir stehenden Arschverlag geht, sondern lediglich der Brandenburger AfD-Vorsitzende René Springer zitiert wird, fällt da kaum auf!

Zumindest nicht Titanic

 Gute Frage, liebe »Süddeutsche«!

»Warum haben wir so viele Dinge und horten ständig weiter? Und wie wird man diese Gier wieder los?« teast Du Dein Magazin an, dasselbe, das einzig und allein als werbefreundliches Vierfarb-Umfeld für teuren Schnickschnack da ist.

Aber löblich, dass Du dieses für Dich ja heißeste aller Eisen anpackst und im Heft empfiehlst: »Man kann dem Kaufimpuls besser widerstehen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Wer will, dass ich das haben will?«

Und das weiß niemand besser als Du und die Impulskundschaft von Titanic

 Warum, Internet?

Täglich ermöglichst Du Meldungen wie diese: »›Problematisch‹: Autofahrern droht Spritpreis-Hammer – ADAC beobachtet Teuer-Trend« (infranken.de).

Warum greifst Du da nicht ein? Du kennst doch jene Unsichtbar-Hand, die alles zum Kapitalismus-Besten regelt? Du weißt doch selbst davon zu berichten, dass Millionen Auto-Süchtige mit Dauer-Brummbrumm in ihren Monster-Karren Städte und Länder terrorisieren und zum Klima-Garaus beitragen? Und eine Lobby-Organisation für Immer-Mehr-Verbrauch Höher-Preise erst verursacht?

Wo genau ist eigentlich das Verständlich-Problem?

Rätselt Deine alte Skeptisch-Tante Titanic

 Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Nachdem Sie eine Klage wegen Rufschädigung eingereicht haben, wird nun voraussichtlich ein Prozess gegen den britischen Rockstar Brian Molko eingeleitet. Dieser hatte Sie bei einem Konzert seiner Band Placebo in Turin als Nazi und Faschistin bezeichnet.

Wir finden, da könnten Sie sich mal etwas lockermachen. Wer soll denn bitte noch durchblicken, ob Sie gerade »Post-«, »Proto-« oder »Feelgood-« als Präfix vor »Faschistin« bevorzugen? Und: Wegen solcher Empflichkeiten gleich vor Gericht zu gehen, kostet die Justiz so viel wertvolle Zeit. Die könnte sie doch auch nutzen, um Seenotretter/innen dingfest zu machen oder kritische Presse auszuschalten. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht, Sie Snowflake?

Schlägt ganz gelassen vor: Titanic

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

 Mitgehört im Zug

»Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt!« – »Ja, aber das muss es ja nicht bleiben.«

Karl Franz

 Frage an die Brutschmarotzer-Ornithologie

Gibt es Kuckucke, die derart hinterhältig sind, dass sie ihre Eier anderen Kuckucken unterjubeln, damit die dann fremde Eier in fremde Nester legen?

Jürgen Miedl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg