Inhalt der Printausgabe
Keine Krise ohne Kurt
Bekenntnisse des Kurtfälschers Cornelius W. M. Oettle.
2008. Finanzkrise. Im World Wide Web kursiert das Gedicht »Höhere Finanzmathematik«. Auch einige Tageszeitungen drucken die zehn kapitalmarktkritischen Strophen (»Der Gewinn, der bleibt privat / die Verluste kauft der Staat«). Der Dichter Richard Kerschhofer wird nirgendwo genannt. Stattdessen heißt es: Kurt Tucholsky (1890–1935) habe schon vor 100 Jahren die Tücken unseres Finanzsystems in visionär-virtuosen Versen zum Vortrage gebracht.
2019. Silvester. Mit dem auf der TITANIC-Homepage erscheinenden Friedensgedicht »Zur Versachlichung der Böllerdebatte« gelingt es mir, einen für unlösbar gehaltenen Konflikt auf ewig beizulegen.
2021. Pandemie. Der Zankapfel Impfung ist auf Pomelogröße angeschwollen. Nur ein weiteres Friedensgedicht kann uns noch retten. Ich schreibe »Zur Versachlichung der Impfdebatte«.
Sämtliche Zeitschriften, denen ich das Opus unter meinem Namen feilbiete, lehnen prompt ab: »Billiger Schund eines talentlosen Literaturfeindes«, »Eine Beleidigung der Poesie« und »Kontaktieren Sie uns nie wieder, Sie hundsföttischer Hurenbock« wären freundliche Rückmeldungen gewesen im Vergleich zu denen, die ich erhalte. »TITANIC online« reagiert erst gar nicht. Niemand wagt einen Abdruck.
Tucholsky bediente sich in derart gelagerten Fällen seiner Pseudonyme: Ignaz Fröbel, Theophilus Tiger, Kaspar Mauser, Peter Pan. Allein: Welchen Nom de plume soll ich verwenden? Natürlich! Ich habe aus der Finanzkrise gelernt. Dann greife ich zu Microsoft Paint.
Flugs ist das Gedicht auf die digitale Leinwand gecopypastet, für den Hintergrund ein angegilbter Farbton gewählt, der Winkel des Textfeldes leicht geneigt und die neugeschaffene PNG-Datei getwittert.
Bereits nach 50 Minuten haben die Twittervögel »Zur Versachlichung der Impfdebatte« tausendfach geteilt. Reichweitenstarke Accounts wie »Krieg und Freitag«, Margarete Stokowski (Trägerin des Kurt-Tucholsky-Preises 2019) und der Postillon nehmen ihre Retweets viel zu spät zurück. Das Gedicht erscheint in Instagram-Stories von Tagesthemensprecherinnen, sorgt auf Facebook für unzählige Wutlikes plus Freundschaftskündigungen (sorry!) und ploppt auf im Whatsapp-Status deiner Mutter (doppelsorry!) .
Es verbreitet sich wie ein Virus. Mit verschiedenen Mutationen:
Diese noch ansteckendere Variante kommt sogar mit verbesserter Überschrift daher: »Zur Vermenschlichung der Impfdebatte«.
Endlich ergreift die Tucholsky-Gesellschaft Eindämmungsmaßnahmen. Via Facebook klärt sie über das inkriminierte Poem auf und wünscht abschließend »viel Freude mit dem Gedicht von Cornelius W. M. Oettle«.
Einen schwereren Verlauf erleidet der Zitatforscher (kein IHK-Beruf) Gerald Krieghofer. Er sitzt auf dem Sofa und nimmt übel. Womöglich, weil die Tucholsky-Gesellschaft zwar auf Krieghofer hinweist, ihn dabei aber Paul nennt:
Überdies lässt uns Krieghofer in diversen Beiträgen wissen, dass er das so beliebte Gedicht für »plump«, »grausam geistlos« und »barbarisch« hält. Er kommt aus dem Geifern gar nicht mehr heraus, was seinen traurigen Höhepunkt in einer Gegenüberstellung findet, der zufolge ich genauso schlimm bin wie Hitler:
Das gibt mir zu denken. Nur Hunderttausende? Auf Englisch wären’s vielleicht Millionen gewesen. Nächstes Mal Mark Twain.
Eigentlich müsste ein Zitatforscher doch froh sein, dass sich überhaupt noch jemand die Mühe macht, populäre Fakes in Umlauf zu bringen. Sonst wäre er ja arbeitslos.
Immerhin hat sich mittlerweile rumgesprochen, dass das Gedicht »nicht echt« ist. Internetexperten erklären mir, dass ich auf einen Fake hereingefallen sei. Ich solle Quellen künftig besser prüfen, die Zeilen seien nicht 1928 erschienen. Sondern:
»Danke für die Info«, antworte ich manchen, höflich und konfliktscheu wie ich eben bin. Und erkundige mich, ob man denn den wahren Autor der Verse kenne. Darüber herrscht bei den 60 Faktencheckern Einigkeit: wahrscheinlich Thomas Gsella. Doch auch der muss passen:
Doch nicht alle machen mich zur Sau. Fans des Gedichts schreiben mir private Nachrichten wie diese:
Und damit wär’s das eigentlich gewesen.
Bis mich am 16. Dezember (der aus Hauck & Bauer bekannte) Dominik Bauer anfunkt: »Guckst Du gerade Maybrit Illner?« Kein erfreulicher Dialog hat jemals so begonnen. Im ZDF-Livestream sitzt neben Friedrich Merz der langjährige Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit. Plötzlich fällt Letzterer der über sächsische Impfgegner philosophierenden Journalistin Bettina Schausten ins Wort: »Darf ich mal was vorlesen?« fragt er und faltet ein Din-A4-Blatt auseinander.
Mein einziger Gedanke in diesem Moment, um es mit Ulf Poschardt zu sagen: »Bitte nich.« Starr vor Cringe lausche ich einem der schönsten Dialoge der deutschen Fernsehgeschichte.
Cohn-Bendit mit erhobenem Zeigefinger: »Darf ich mal was vorlesen? Ein Gedicht von Kurt Tucholsky. Vor 93 Jahren. Zur Impfdebatte.«
Illner: »Weil es so alt ist?«
Cohn-Bendit: »Weil es so alt ist.«
Doch zum Vortrag kommt’s nicht. Kurtus interruptus. Nicht, weil es so alt ist, sondern weil Schausten klarmacht, dass sie auch für Tucholsky niemals die Luft anhalten würde. Und auch, weil Schutzpatron Friedrich einschreitet, ein Merzengel, der seinem Altersgenossen Cohn-Bendit (beide um die 100) zu raten scheint, das angekündigte Rezitieren mal lieber zu lassen. Der CDU-Chef weiß also von diesem Gedicht. Vielleicht auch dank seines Parteikollegen Ruprecht Polenz:
Was lernen wir aus dieser Geschichte? Ich für meinen Teil habe beschlossen, dass es nie mehr eine weltweite Katastrophe ohne passendes Tucholsky-Gedicht geben darf und wird. Keine Krise ohne Kurt – dafür stehe ich mit seinem Namen. Und zur Frage, was K.T. selbst wohl zu alledem gesagt hätte: Darauf weiß die Zitatforschung leider keine Antwort. Zu den Grenzen der Satire hat sich Tucholsky nie geäußert. Ich habe dazu jedenfalls nichts gefunden.