Inhalt der Printausgabe

Außer Spesen noch viel anderes gewesen

von Ella Carina Werner 

Versteh’ einer die Künstler! Jammern, dass sie nichts zustande bringen, aber vernichten Jahr für Jahr das Interessanteste an ihrem Werk. Ein befreundeter Schriftsteller präsentierte mir kürzlich sein Geburtstagsgeschenk, den Traum seines Lebens: einen monumental großen Papierschredder. Er sei, verkündete er, seit zehn Jahren freischaffender Künstler und Steuerzahler, und da nach dieser Zeit die »Aufbewahrungspflicht« ende, dürfe er seine sensiblen Daten endlich, Halleluja, vernichten, zerhackstückeln: Jeden Honorarnachweis, jeden berufsbedingten Kaufbeleg, jede Busfahrkarte, ja den gesamten Steuerordner des Jahres 2011. In seinen Augen ein geiles Glitzern. Dann brabbelte er noch etwas vor sich hin, ob er in 2-Millimeter-Streifen zu zerstören gedenke, was die Vorschrift für Militär-Unterlagen sei, oder im angesagten Cross-Cut.

Mein Kollege ist nicht der einzige. Alle Datenschutz-Portale warnen frenetisch davor, alte Steuerbelege einfach in den Papiercontainer zu werfen, da sie von dort »leicht in falsche Hände geraten können«. Die Folgen mag man sich gar nicht ausmalen. Oder doch. Türgebimmel. Auf der Fußmatte steht der Nachbar. Lässig lehnt er im Türrahmen, senkt die Stimme: »Leihen Sie mir Ihren Rasentrimmer, sonst erzähle ich allen, dass Sie 250 Euro für Ihren eigenen Wikipedia-Eintrag ausgegeben haben und der einzige Wurzelsepp sind, der noch riestert!« Sämtliche Anwohner haben plötzlich blendende Laune und giggeln, wann immer man ihre Wege passiert, »Anti-Stress-Ball« oder »Focus-Abo«. Der ein oder andere hat vielleicht gar gute Kontakte zur Lokalzeitung. Worst case. »Bekanntmachung: Die dem Postmaterialismus zugeneigte Autorin Ella Carina Werner hat schon wieder einen neuen Mobiltelefonhalter gekauft zu 16,90 Euro. Typisch Linke!«

In Frankreich dürfen Künstlerinnen Friseurbesuche von der Steuer absetzen – und Baskenmützen, Federboas und fassweise Calvados noch dazu.

Nichts gegen Schreddern. Ich schreddere auch gerne mal was. 17 Jahre alte Weihnachtsservietten, die Muttertagsgeschenke meiner zahllosen Kinder, Mehlwürmer und jeden einzelnen Leitartikel der FAZ. Aber nicht meine Steuerbelege, niemals. Jeder einzelne ist mir lieb. Wenn ich irgendwann alt bin und nur noch von Met und Erinnerungen lebe, schlurfe ich zur schweren Schrankwand, ziehe den Leitz-Ordner »Steuer 2011« heraus und tauche ein in eine längst vergangene Zeit. Streiche mit zittrigen Fingern über vergilbte, mit Quittungen beklebte A4-Blätter und murmele »Ach, ach, ach« und »Wieso habe ich eigentlich so lange Kirchensteuer gezahlt?« Alles findet sich darin. Die Ängste. Die Exzesse. Die Todsünden (ein Probe-Abo der Welt). Die Durststrecken, also die zwischen zwei Bewirtungsbelegen, kündend von Boheme-Gelagen, auf die bereits die ersten Tränen der Rührung tropfen. Ein herrliches, übervolles Jahr war’s gewesen, so herrlich und übervoll wie das goldene Kalenderjahr 2022 elf Ordner weiter. Sieh an, ein Kaufbeleg des Stern, der kurz darauf krachend pleite ging. Ein Geschäftsessen, quittiert von »Domino’s«. Der Kassenbon des Synonym-Lexikons »Sag es treffender«. Noch ein Kassenbon, »Sag es noch treffender«, aktualisierte Auflage. Mein erstes Uber-Taxi. Mein zweites Uber-Taxi. Und hier (melancholisches Aufquieken): das 9-Euro-Ticket mit dem Erlebniswert eines Festivalbändchens, die Eintrittskarte in den Sommer des Jahrhunderts, ausgedruckt auf Papier. Papier, das ich am Sterbebett nicht dem schnöden Schredder vermache, sondern dem Deutschen Literaturarchiv.

Schade, dass andere Künstler nicht so transparent und weitsichtig agieren, sonst wären die schönsten Unikate und Zeitdokumente in Museen und Staatsarchiven ausgestellt. Brechts Dramen interessieren mich kein bisschen, aber seine Kontoauszüge würde ich sofort verschlingen. Oder die von E.T.A. Hoffmann, der in sein Tagebuch schrieb: »Alle Nerven excitiert von dem gewürzten Wein.« Die Bewirtungsbelege würde man gerne mal lesen. Aber nein, der überschätzte Romantiker hat alles vernichtet, sämtliche Unterlagen zusammengerafft, und ab damit durch die Spätzlepresse, weil es im 19. Jahrhundert noch keine Papierschredder gab.

Das war ein Problem. Abertausende Künstler vergangener Zeiten zerfetzten ihre Unterlagen notgedrungen in Forsthäckslern, mithilfe von Nagelknipsern oder Schneckenhackern: Mäzenatenverträge, Telegramm-Kosten oder drei Finger der rechten Hand. Noch Thomas Mann schrieb an seinen Romanen lediglich drei Stunden am Tag. Die anschließenden Arbeitsstunden soll er damit zugebracht haben, sensible Belege unlesbar zu lochen, mit dem Edelstahl-Locher zu 25 Mark.

Die saftigsten Kaufbelege haben übrigens, damals wie heute, die Musiker. Man denke nur an die vielen Waschlappen gegen verschwitze Hände sowie die Dirigentenstöcke und Zupfinstrumente, die alle naselang vor Publikum zerdeppert werden. Hat Jimi Hendrix seine zertrümmerten Gitarren als Arbeitskosten beim Finanzamt geltend gemacht? Seinen Steuerberater beneidet man nicht.

Wer wirklich hinter jeder Papiertonne den BND wittert und seine edelsten Unterlagen auf Teufel komm raus der Nachwelt vorenthalten will: Na gut, Paranoiker soll man nicht aufhalten. Aber wenn, dann doch nicht mit einem seelenlosen Vollautomatik-Schredder, sondern mit Pathos, Pomp und Paukenschlägen, wie es Künstlern gebührt!

Wie viele Levis-Jeans dieser Bühnenmusiker zerschneiden musste, bis das perfekte Coverbild im Kasten war, mag man sich nicht ausmalen.

Die stimmungsvollste Option ist seit jeher: Abfackeln. Das mag man sich gerne vorstellen. Es ist Nacht. Es ist stockdunkel. Immer am ersten Ersten eines Jahres kommt ein Dutzend Staatsdichter in Kapuzenkutten zusammen, auf dieser sagenumwobenen, entlegenen Lichtung im Oberharz, wobei diese bei Eintritt irgendwas Geheimniskrämerisches als Losungswort raunen müssen, »Tabula Rasa« oder »Rien ne va plus«. In der Mitte türmt sich Holzscheit auf Holzscheit. Der Älteste (Martin Walser?) entflammt das Feuer mithilfe von zwei Gesteinen, Grillanzünder und Apfelkorn, dass die Stichflammen flugs bis zum Großen Wagen lodern – und hinein mit dem papiernen Plunder, sowie dem ein oder anderen missratenen Manuskript. Nehmt das, ihr Flammen! Und irgendwer, lass es Saša Stanišic´ sein, zieht eine Gitarre hervor und klampft ganz leise »The End« von den Doors, während der Rest im Wiegeschritt um das flammende Inferno tanzt. Der Höhepunkt: Um Mitternacht halten alle Anwesenden Marshmallows oder Stockbrot über das langsam erlöschende Feuer. Das hat Sexyness, das hat Grandezza und den Mehrwert der Katharsis, das treibt nebenher den Teufel aus und die eine oder andere Schreibblockade, und so hat es vermutlich die Gruppe 47 praktiziert und der alte PEN. Der neue mag neue, progressivere Wege gehen, mit Büchermilben und Papierfischchen experimentieren, »die Scheiße« (Deniz Yücel) zu Pappmaché weiterverarbeiten oder lecker Fisch darin einschlagen, um dem Upcycling-Gedanken zu genügen.

Am weihevollsten, auratischsten ist natürlich der Soloauftritt. Schöne Idee: Jede Quittung einzeln zum Papierschiffchen falten, und hinaus damit auf die offene See, so wie es, was man so hört, Karl Ove Knausgård Jahr für Jahr am Dødes Fjord zelebriert und dabei unablässig »adjø, adjø, adjø« raunt bis zur Heiserkeit. »Til ingensteds« (»Nach nirgendwo«) steht handschriftlich auf jedem Papiersegel geschrieben. Und so hockt er da, ganz für sich, nur er, die Schiffchen und die nordeuropäische Presse.

Ebenfalls mit Pathos-Wert und dazu schnell, sauber und effizient: sämtliche Belege aufessen. Ich tippe hier auf Maxim Biller. Hinein in den Schlund mit TV-Verträgen und jeder einzelnen gottverdammten Karte des ÖPNV – verschwindibus, mit Curry-Ketchup, ehe der Nachbar ihn wieder mit der Rasentrimmer-Nummer erpresst. Nur weil er, Biller, jedes Quartal neue Anti-Schall-Kopfhörer ersteht, weil man nur schöpferisch bei göttlicher Stille sein kann, aber das wird der Pöbel nie verstehen.

Schöner wäre nur noch: Alle Unterlagen aufzubewahren. Sie dürfen einfach nur nicht in die falschen Hände kommen, sondern in die richtigen. Einfach in die richtigen. Geschickt lanciert, können von Nachbarn gefundene Steuerbelege das eigene Ansehen enorm steigern, sind etwa üppige Bewirtungsbelege Prädikat eines noblen Menschenfreundes. Und die Kombination aus Riester-Rente und progressivem Künstlertum nicht komplett bekloppt, sondern Ausweis einer komplexen, mehrdimensionalen Persönlichkeit. So wie die von Joachim Meyerhoff. Ja gut, hat er sich diese Riester-Sache vor Jahren aufschwatzen lassen von diesem graugesichtigen, schlitzohrigen »Berater« am Küchentisch in einem schwachen Moment. Einerseits misstraut er dem Staat in all seinen Institutionen. Andererseits muss man an diese halbstaatliche Gemeinwohlkiste auch einfach mal glauben! Muss man nicht mal etwas wagen?

Das nennt man einen klassischen inneren Konflikt. Shakespeare oder Elfriede Jelinek hätten ein Drama daraus gemacht. Jelinek, die vermutlich noch nie einen Kaufbeleg abgeheftet hat. Zu weltlich. Jelinek mit Pritt-Stift kann ich mir nicht vorstellen. Benjamin von Stuckrad-Barre mit Pritt-Stift kann ich mir auch nicht vorstellen. Juli Zeh kann ich mir damit hingegen sehr gut vorstellen. Die handfeste, patente Zeh, die jeden Beleg am Monatsende einzeln aus den Seitentaschen des Portemonnaies pfriemelt – ein Schlussbild der Extraklasse.

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Eine Frage, Miriam Meckel …

Im Spiegel-Interview sprechen Sie über mögliche Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt. Auf die Frage, ob die Leute in Zukunft noch ihr Leben lang im gleichen Beruf arbeiten werden, antworten Sie: »Das ist ja heute schon eher die Ausnahme. Ich zum Beispiel habe als Journalistin angefangen. Jetzt bin ich Professorin und Unternehmerin. Ich finde das toll, ich liebe die Abwechslung.« Ja, manchmal braucht es einfach einen beruflichen Tapetenwechsel, zum Beispiel vom Journalismus in den Fachbereich Professorin! Aber gibt es auch Berufe, die trotz KI Bestand haben werden? »Klempner zum Beispiel. Es gibt bislang keinen Roboter mit noch so ausgefeilter KI auf der Welt, der Klos reparieren kann.«

Das mag sein, Meckel. Aber was, wenn die Klempner/innen irgendwann keine Lust mehr auf den Handwerkeralltag haben und flugs eine Umschulung zum Professor machen? Wer repariert dann die Klos? Sie?

Bittet jetzt schon mal um einen Termin: Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg