Inhalt der Printausgabe

Brentanos Socken

von Ella Carina Werner

Schön ist es, im Morgengrauen per S-Bahn durch die Stadt zu fahren, denn im Morgengrauen gibt es immer gute Gespräche. Einmal fuhr ich, der Osthimmel flammte gerade karminrot, von der Haltestelle Reeperbahn nach Hause. Mir gegenüber saßen zwei junge Frauen. Ihre Wangen zierten zarte Kajalschmisse, ihre Ohrläppchen schockfarbene Ohrgehänge, groß wie Mobiles. Dabei schwätzten sie schläfrig auf Englisch. Es waren, so stand es zu vermuten, englische Touristinnen, denn die amerikanischen fahren immer Taxi, und die australischen sind schon lange im Bett. In Hamburg gibt es viele englische Touristinnen, wohl weil Hamburg als die »englischste Stadt Deutschlands« gilt, obwohl die englischste Stadt Deutschlands eigentlich Duisburg ist: eng, verfallen, unterfinanziert und 75 Prozent Säufer.

»And what did you do after the club?« fragte irgendwann die eine, die mit dem blonden Pagenkopf.
»Had sex with a guy«, antwortete die andere, die mit den rötlichen Locken.
»Well, how was it?«, erkundigte sich die erste, denn das muss man in dieser Situation natürlich zurückfragen, das gehört dazu.
Die Lockige ließ den Blick aus dem Fenster in die Dämmerung schweifen und zuckte mit den Schultern, als suchte sie nach dem richtigen Wort. »Uh … German.«
Die erste nickte, schmunzelte leicht spöttisch, wie nur betrunkene Engländerinnen schmunzeln können, und knuffte ihrer Gesprächspartnerin gegen die Schulter: »I see!«
Kurz darauf stoppte die Bahn und die Frauen wankten ins Freie.

German barman in Pirmasens.

Schade. Denn was die beiden mit ihrem Werturteil genau meinten, über das sie sich auch noch vollkommen im Einklang befanden, hätte ich gerne noch in Erfahrung gebracht. Ob das eher so ins Überkorrekte oder ins blind Gehorsame ging, ins Blitzkrieghafte, Steril-Spannungslose oder einfach in den Po?

Und wie hätte die Freundin wohl reagiert, hätte die Lockige nicht »German« gesagt, sondern »Dutch« geraunt oder »Bulgarian« gejuchzt? Oder hatte ich mich vielleicht doch nur verhört, und die Lockige hatte etwas ganz anderes gesagt, etwa »Burman«, »normal« oder irgendwas von einem liederlichen »barman«? Noch lange, lange hallte das fragliche Attribut in mir nach. »German«, das war eigentlich ein Wort, das ich bislang zu kennen glaubte. Ein Wort, das so forsch begann und so dunkel im Abgang war. Ein Wort, dessen Bedeutung mir jetzt, je weiter ich Richtung Hamburger Süden fuhr, immer rätselhafter erschien und irgendwann in meinem Kopf vollständig verschwamm, so wie draußen die Lichter der Stadt. Ein Wort, das aus dem Mund einer Engländerin vielleicht einmal einen ganz anderen Beiklang hatte. Damals, im viktorianischen Zeitalter, als die Engländer alles Deutsche verehrten.

»How did he die?« – »German.« Seinerzeit, in der Romantik, als die ganze europäische Geisteswelt davon träumte: an einer Eiche baumelnd in einem nebelverhangenen Tal, die Zehen im Gras, die Stirn zum fahlen Mond, dieselben wollenen Socken wie Clemens Brentano.
Früher, als man, gefragt nach der werten Befindlichkeit, ein lustvollelegisches »German« hervorstieß, als Synonym für schaurig-schönsten Weltschmerz.
Nach den Weltkriegen erhielt es vermutlich eine neue Bedeutung. Man stelle sich einen dieser finsteren britischen Kriminalfilme der späten Vierzigerjahre vor. Düsteres Licht. Der Detektiv schreitet den Tatort ab, hebt eine rotblonde Augenbraue, kombiniert: »The German way …« Pfeife schmauchend betrachtet er den Toten im Bett, dessen Bauchdecke in zwei sich schneidenden Geraden akkurat aufgeschlitzt ist, die inneren Organe der Größe nach auf dem Laken aufgereiht.
Das ist auch schon wieder eine Weile her. Heute sind die Töne wohl eher leiser, trüber. »Honey, how was your day?« fragt die Londoner Hausfrau ihren heimkehrenden Gatten. Knottert dieser ein »German« heraus, schlägt den Kopf gegen den Wohnzimmertisch und öffnet bereits die erste Flasche Ale, wird sich die Ehefrau hüten, weitere Nachfragen zu stellen, und den Rest des Abends auf Zehenspitzen durchs Haus schleichen.

Was im Englischen eher wenig Gutes bedeutet, ist in anderen Sprachen jedoch vielleicht ein dickes Kompliment. Denn neben dem dunklen, erdigen »German« gibt es auch das federleichte »Allemand«, das beinahe zärtlich klingt. Gesellt sich das drollige »Duits« der Niederländer hinzu, das sich so hübsch auf »biscuits« reimt. Reiht sich das isländische »Pýskur« ein. Ein Wort, das man nur hauchen kann. Ein Wort, bei dem beim bloßen Aussprechen die Augen mitleuchten, ob man will oder nicht.
Das »Tedesco« der Italiener klingt dagegen härter, während das scharfkantige »Niemiecki« der Polen bei bloßer Aussprache bereits an Verbalgewalt grenzt. Oder das spöttisch-spanische »Alemán«. »Welche Kleidergröße haben Sie«, flachsen die zartgliedrigen Spanier, »Chico, gran, x-gran o alemán, hahahaha?« Nichts, gar nichts hört sich jedoch so vulgär, ja geradezu obszön an wie das luxemburgische »Däitsch«, vor allem aus dem Munde von Jean-Claude Juncker. Das respektvoll tönende »Gearmailteach« der Schotten würde ich hingegen gerne einmal in natura hören, aber Gälisch wird nur noch von sehr greisen Schotten gesprochen und diese reisen nie Richtung Reeperbahn, sondern in heimische Bumsparadiese wie Inchcailloch, Muckle Flugga oder Sula Sgeir.

Deutsche Lustspielzeuge.

Was mich auch interessiert: Wurde während des Kalten Krieges eigentlich zwischen west- und ostdeutschem Sex unterschieden? Hier egoman und stets auf den eigenen Vorteil bedacht, dort gemütlich und leicht larmoyant? Und wenn »German Sex« eine bestehende Phrase ist, so wie »German Angst«, gibt es dann noch weitere, zum Beispiel die »German Revolution«? Man kann sich ausmalen, wie ein brasilianischer Rebell nach einem blutigen Aufstand gegen das Bolsonaro-Regime in den Schoß seiner Familie zurückkehrt. Die Liebsten sitzen erwartungsvoll im Kreis und bestürmen den Heimkehrenden, wie es denn war. »Pfff … alemão!«, rotzt der heraus, den originalverpackten Sprengsatz noch in der Hand. Denn jeder weiß, dass die Deutschen auf dem Feld der Revolution bislang wenig hingekriegt haben. So wenig, dass es als geflügeltes Wort wunderbar taugt: »Don’t take him serious, he’s just making a German Revolution.«

Wochenlang versuchte ich herauszukriegen, was »German Sex« denn nun ganz genau bedeutet. Leicht ist das nicht. Das Internet weiß keine rechte Antwort, und Oswalt Kolle ist schon tot. Möglicherweise handelt es sich einfach um richtig schlecht gelaunten, miesepetrigen Sex. Ich sehe sie vor mir: einen Mann und eine Frau, so viel Heteronormativität darf hier ruhig mal sein. Sie wälzen sich auf einer Federkernmatratze, es könnte bei näherer Betrachtung aber auch eine Komfortschaummatratze sein. Sie vögeln richtig derb und gucken dabei richtig missvergnügt, was der Geilheit aber keinerlei Abbruch tut, im Gegenteil. Hängende Mundwinkel, griesgrämige Blicke, so griesgrämig wie die Menschen in den Fassbinder-Filmen, die aber eher selten vögeln, sondern eher lustlos und resigniert irgendwo herumstehen. In den Augen der beiden Motzköppe ist kein Glimmen, sondern Kaltherzigkeit, während sie nebenbei noch über das Wetter und die Nachbarn abkotzen, grummeln und raunzen, was den Sex der nimmersatten Nölfressen nur noch geiler macht. »Sex« sagen sie natürlich nicht, sondern »Verrichtung«. »Machen wir heute wieder Verrichtung?« granteln sie einander ins Ohr.
Ich könnte mir, andererseits, aber auch ein offenes, gut ausgeleuchtetes Wohn-Ess-Zimmer vorstellen, darin ein nettes Ehepaar. Sie tragen Nubukleder-Sandalen und darüber nichts. Ihre Kinder sind längst im Bett, bereits aus dem Haus oder stehen angeekelt oben an der Freitreppe. Aus dem Radio dudelt Schubert. Das Ehepaar positioniert sich auf dem Flauschteppich, ehe der Mann in seine Partnerin eindringt, sie brutal penetriert, also mit Worten: »Ich dringe jetzt mal in dich ein!« Dann zirkelt der Wagehals das Ding passgenau rein wie Toni Kroos diesen einen Freistoß 2018. »Ich komme in drei Minuten«, ruft der Mann irgendwann, und natürlich kommt der Teufelskerl in drei Minuten, wie soll es anders sein, während die Frau noch ein paar multiple Orgasmen durchlebt, welche sie aus voller Kehle mitzählt und später in einem ledernen Notizbuch notiert.

Vielleicht meint »German Sex« aber auch Rollenspiele voller Suspense und Machtgefälle: Chef und Sekretärin, Lehrer und Schülerin, Lehrer und angestellte Lehrerin ohne Beamtenstatus, Postoberinspektorin und Postunterinspektorin, Riesenpudel und Zwergpudel? Oder Dirty Talk im lustigen Wilhelm-Busch-Ton (»Ich sage es ganz unbenommen / ich werde jetzt allmählich kommen«)? Ist »German Sex« langatmig wie eine Folge von »Derrick«, nüchtern wie ein Bauhaus-Ensemble, seelenlos wie deutsche Ingenieurskunst, schwerfällig wie die gesamte EU oder meint schlicht und ergreifend bumsen ohne Tempolimit?
Ich werde es wohl niemals erfahren, ja vielmehr die Vieldeutigkeit dieses delphischen Begriffspaars bis ans Ende meiner Tage still genießen, und dieser Gedanke macht mich am Ende doch auch froh.

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
18.04.2024 Berlin, Heimathafen Neukölln Max Goldt
18.04.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt