Inhalt der Printausgabe

Die Schönheit des Fersenlaufs

von Ella Carina Werner

Neulich saß ich mit einer Thermosflasche Grog auf einer Parkbank an der Alster und Markus Lanz lief an mir vorbei. Wie aus dem Nichts tauchte der TV-Titan unter den sonnendurchfluteten Blättern der Linden auf, mit azurblauer Fleecejacke, Pulsuhr und langen, ausladenden Schritten. So elegant, fast schwerelos, bis auf das Schnaufen.

Schön ist es, in den Morgenstunden an diesem Hamburger Binnensee herumzulungern. Das Glitzern des Wassers, das Rascheln von Eiche, Ahorn und Linde, das heisere Schnattern der Enten. Ich dachte daran weiterzubechern, da erspähte ich direkt vor mir die Hechelzunge von Frank Otto. Der schöne Otto, Medienmogul und Spross der reichsten Unternehmerfamilie der Stadt, wohnhaft in Blankenese, mit Zweitwohnsitz in der Bunte.

Dann wieder, zum Runterkommen, ein laufender Trupp mir unbekannter Menschen: namenlose Notarinnen, gesichtslose Gynäkologen, schwitzende Stuckateure und zwischendrin Kai Pflaume. Pflaume, der »sympathische Promi-Jogger« (Hamburger Morgenpost), der, und das ist das Beeindruckende, ja schon wieder Heroische, eigentlich in München wohnt.

Und als ich dachte, jetzt ist aber gut, galoppierte ein Mann mit sonnengegerbter Haut und lachsfarbenen Funktionsshorts herbei. Die Zunge hing ihm aus dem Maul oder eine Zigarre. War das nicht diese eine Kiez-Größe? Die Kiez-Typen heißen ja heute nicht mehr Lackschuh-Dieter oder Schnitzel-Walter, sondern Dieter Lackschuh und die jüngeren Jan-Niklas Hansen oder so. Himmel, wenn selbst die Zuhälter joggen, ist die totale neoliberale Selbstoptimierung der Gesellschaft erreicht, ging mir auf, aber beim Näherkommen war es dann doch nur Uli Wickert.

Joggen »hilft auch bei der vielen Arbeit« (Olaf Scholz), etwa nach dem Staubsaugen oder dem Abwasch.

Ich ließ die Thermosflasche sinken. Langsam wurde das Schauspiel ein wenig ermüdend. Langsam wurde es doch etwas zu viel. In jeder anständigen Stadt gibt es irgendwas in Überfülle. In Düsseldorf sind es hochpreisige Geschäfte, in Duisburg vernagelte Geschäfte, in Kassel Waschbären und in Hamburg nun mal Prominente. Sie sind überall. Ein gewisses Quantum schmückt jede Stadt, aber sind sie zu zahlreich, wird es öde und inflationär. Steht man entspannt vor »Pommes 3000«, fläzt sich Tim Mälzer neben dem hängenden Majo-Drücker, auf der Suche nach einem frechen Streetfood-Trend, und wann immer jemand in der Frauensauna laut losgackert, dass der Schweiß spritzt, ist es Susanne Daubner. Doch nirgendwo verdichten sich die namhaften Persönlichkeiten so sehr wie an der Alster.

Das darf nicht überraschen. Ob Wickert, Lanz oder Pflaume, zahllose Prominente erwähnen alle naselang in Interviews, täglich die 7,4 km um diesen prestigevollen Riesentümpel zu joggen. Dass sie eine Modelleisenbahn im Keller haben oder in ihrer Freizeit gerne Laser-Tag-Arenen aufsuchen, liest man dagegen nie. »Nirgends kann man mehr Promis sichten«, jubeln die örtlichen Zeitungen, und: »Morgens den Alster-Joggern zuzusehen ist fast wie fernsehen!« Wobei nichts trauriger ist, als morgens fernzusehen. Außer vielleicht, Rolf Zuckowski beim Joggen an der Alster zu betrachten, den ich eine Woche zuvor hier entdeckte, mit übergroßen Kopfhörern, die Gesichtszüge – war’s ein »Runner’s High«? – gottselig verzerrt. Ob er dabei Fantasy Metal hörte, K-Pop-Hits oder seine eigenen, war am arrhythmischen Kopfnicken nicht zu erkennen.

Kurz: Der Alster-Rundweg ist die deutsche Top-Laufstrecke, um die sich allerlei Mythen ranken. Klaus Störtebeker soll hier kopflos an seiner versammelten Mannschaft vorbeigerannt sein. Gleichfalls Carl Hagenbeck, im Schlepptau ein Elefant, drei Wisente und sieben nackte Pygmäenkinder für die nächste Völkerschau. Nicht zu vergessen Olaf Scholz, mit der grimmigen Miene eines Marathonläufers, auf der Flucht vor G-20-Krawallos und den langen Schatten seiner Vergangenheit.

Allein ein Dutzend »Tagesschau«-Sprecher macht hier täglich Strecke. Die eingerosteten Beine der Teleprompter-Marionetten wirbeln ungelenk hin und her, ja, das gesamte Who-is-Who deutscher TV-Moderatoren tritt sich hier die Zehen in die Hacken wie die Manager am Mount Everest, nur mit weniger Leichen. Niemand weiß, warum die ZDF-Moderatoren hier auch noch alle laufen. Hat Mainz keinen Angebersee? Manchmal erkennt man sie auch nicht, manchmal geht es alles sehr schnell. Der verlebte Greis da im senffarbenen Zweiteiler, war das jetzt Uwe Seeler oder Dagmar Berghoff?

Und der Sportsmann da vorne Giovanni di Lorenzo? Leider ja. Seine endorphin-geweiteten Pupillen funkeln mit der Wasseroberfläche um die Wette. Di Lorenzo läuft, wie nur Zeit-Journalisten laufen können, mit Schlenkerarmen und angespannten Pobacken. Di Lorenzo, die größte Mehrfachbegabung der Stadt, der joggt, nebenher die Enten füttert und über Headset die neue Volontärin zur Sau macht. Ich probiere eine kollegiale Kontaktaufnahme unter Medienschaffenden (»Hallo!«), aber keine Reaktion. Dicht hinter ihm läuft noch ein weiterer, jüngerer Mann, vielleicht sein analoger Schrittzähler oder einer dieser norddeutschen Tiktok-Stars, die hier auch noch alle joggen. Wen ich gern noch sehen würde: Jan Hofer, von Kopf bis Fuß in Trigema-Klamotten, und Jan Delay mit seinem Schlappstil.

Eine Freundin berichtet, sie habe hier einmal Markus Lanz und Johannes B. Kerner gesichtet. Aus entgegengesetzten Richtungen seien sie geradewegs aufeinander zugerannt, und wie gern hätte ich das gesehen. Von links nähert sich in Siebenmeilenstiefeln Lanz. Von rechts, noch 100 Meter entfernt, im Sauseschritt der Kerner (natürlich hasst Kerner Joggen, aber sein PR-Berater hat ihn dazu gedrängt). Südtirol vs. Rheinland, Fersen- vs. Vorfußläufer, das alte vs. das sehr alte Gesicht des ZDF – Showdown der Extraklasse! Noch liegen 80 Meter zwischen ihnen. Noch 50, 30 ... »Hoppla, das ist doch dieser glattzüngige Schlutzkrapfenfresser«, wird Kerner gedacht haben, »kein edgy Typ wie ich! Alles hat er mir genommen: Frauen, Lebensfreude und meine drei guten ZDF-Showformate.« Wut steigt in ihm auf, dass er beinahe sich und das Atmen vergisst.

Kam es zum Schlagabtausch? Plagten Lanz plötzlich Seitenstiche, hervorgerufen durch ein kleines Outdoor-Messer? Starb er gefesselt im Alsterschlick, die blutleeren Lippen voll Entengrütze? Die Wahrheit ist grausamer. Die Freundin schwört Stein und Bein, die beiden hätten einander ein lässiges »Ahoi!« zugerufen, wie es nur Zugezogene aus dem Süden tun. Dann lieber noch, mit Zeigeund Mittelfinger das rechte Auge zugehalten, den irren ZDF-Gruß.

Aufwärmen ist beim Laufen das A und O. Hier das Ensemble des Hamburger Musicals »König der Löwen« (Simba zweiter von rechts).

Die eigentlichen Laufhelden sind jedoch andere: die Nachtjogger. Jeder herabgefallene Ast in der Finsternis, jeder kollabierte Vordermann ist ihnen ein gefährlicher Stolperstein. Allein dass sie so lange aufbleiben können, der Wahnsinn. Udo Lindenberg soll hier im Schutze der Dunkelheit laufen (»Mit einer Grubenlampe. So eine Art Lightshow am Hut«), auch Stuckrad-Barre wurde eine Zeitlang nicht müde zu erwähnen, nach Mitternacht die Alster gleich zweimal zu umrunden.

Gestern Abend trank ich drei Cola Light und blieb sehr lange wach. Um 0:30 Uhr nahm ich die S-Bahn Richtung Alster und trieb mich dort herum. Ein Käuzchen wimmerte, Fledermäuse flatterten, in den Büschen das übliche Gebumse. Ich stand eine Weile dumm herum, ließ ein paar NDR-Moderatoren auf dem Weg in den verdienten Feierabend passieren. Ich spähte Weg auf, Weg ab nach Lindenberg, dem laufenden Lindenberg mit Laufhut und -mantel, wenigstens einem Lindenberg-Double, aber konnte ihn nicht finden. Vermutlich saß er in diesem Augenblick droben im Hotel Atlantic, keine 100 Meter von hier entfernt, im Schlafanzug, die Nasenspitze an die kühle Fensterscheibe gedrückt, und feixte sich einen ob der Journalisten, die hier seit Jahren nach ihm suchten. Der einzige Exzentriker, den ich ausmachen konnte, war ein Typ im Bademantel, der sich vornübergebeugt über den Alsterweg schleppte. Klar, Olli Dittrich, es konnte aber vom Schlurfgang her auch Wolf Biermann gewesen sein.

Apropos Biermann: Wie sprach und schrieb man eigentlich in der DDR über Prominente? Heute in der Bundesrepublik geht es ja eher kritiklos zu, doch im führenden Celebrity-Magazin der DDR stand wahrscheinlich etwas anderes. »Lady Diana und Prinz Charles: Traumhochzeit in London! 3000 geladene Gäste versaufen das jährliche Bruttoinlandsprodukt von Nicaragua.« Der Name des Magazins lautete wohl »Die goldene Bonzen-Revue« oder »Feudal & pervers«. Beliebt waren auch Schnappschüsse von schlemmenden Kapitalisten und anderen Aasgeiern. Tropfende Austernschlürfreste im Mundwinkel, die Zähne diabolisch schwarz vom Krim-Kaviar: »Wolfgang Porsche – kann er das alles essen?« Oder: »Familie Oetker lacht in die Kamera. Wann werden sie endlich enteignet?« Oder auch: »Wolf Biermann – so volksfremd läuft er um den Müggelsee!« Ist in der DDR eigentlich irgendwer gejoggt, oder galt dies als bürgerliche Scheiße, was es ja auch ist?

Eine Weile noch latschte ich ergebnislos den Alsterweg entlang. »Gib’s auf, gib’s auf«, lallte der Bademantelträger in meine Richtung, dessen Stimme jetzt eher nach Bernd Lucke klang. Um 01.30 Uhr nahm ich die letzte S-Bahn zurück nach Hause, ehe der neue Tag zum Leben erwachte und mit ihm unvermeidlich die nimmermüden Füße von Markus Lanz.

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Gemischte Gefühle, Tiefkühlkosthersteller »Biopolar«,

kamen in uns auf, als wir nach dem Einkauf Deinen Firmennamen auf der Kühltüte lasen. Nun kann es ja sein, dass wir als notorisch depressive Satiriker/innen immer gleich an die kühlen Seiten des Lebens denken, aber die Marktforschungsergebnisse würden uns interessieren, die suggerieren, dass Dein Name positive und appetitanregende Assoziationen in der Kundschaft hervorruft!

Deine Flutschfinger von Titanic

 An Deiner Nützlichkeit für unsere Knie, Gartenkniebank AZBestpro,

wollen wir gar nicht zweifeln, an Deiner Unbedenklichkeit für unsere Lungen allerdings schon eher.

Bleibt bei dieser Pointe fast die Luft weg: Titanic

 Hi, Daniel Bayen!

Sie sind sehr jung und waren mit Ihrer Firma für Vintage-Klamotten namens Strike vorübergehend sehr erfolgreich. Die ist jetzt pleite, machte aber zeitweise 2,9 Millionen Euro Umsatz. Der Bedarf war so groß, dass Correctiv-Recherchen zufolge sogar massenhaft Neuware zwischen die Secondhand-Bekleidung gemischt wurde. Auch Sie räumten demnach ein, gefälschte Ware geordert zu haben. Allerdings, so behaupten Sie, nur, um Ihren »Mitarbeitern zu zeigen, wie man gefälschte Ware identifiziert und aussortiert«.

Aber Bayen, Ihre Expertise besteht doch darin, neue Sachen auf alt zu trimmen. Also versuchen Sie bitte nicht, uns solche uralten Tricks zu verkaufen!

Recycelt Witze immer nach allen Regeln der Kunst: Titanic

 Nachdem wir, »Spiegel«,

Deine Überschrift »Mann steckt sich bei Milchkühen mit Vogelgrippe an« gelesen hatten, müssen wir selbst kurz in ein Fieberdelirium verfallen sein. Auf einmal waberte da Schlagzeile nach Schlagzeile vor unseren Augen vorbei: »Affe steckt sich bei Vögeln mit Rinderwahnsinn an«, »Vogel steckt sich bei Mann mit Affenpocken an«, »Rind steckt sich bei Hund mit Katzenschnupfen an«, »Katze steckt sich bei Krebs mit Schweinepest an« und »Wasser steckt sich bei Feuer mit Windpocken an«.

Stecken sich auf den Schreck erst mal eine an:

Deine Tierfreund/innen von Titanic

 Augen auf, »dpa«!

»Mehrere der Hausangestellten konnten weder Lesen noch Schreiben« – jaja, mag schon sein. Aber wenn’s die Nachrichtenagenturen auch nicht können?

Kann beides: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Lifehack von unbekannt

Ein Mann, der mir im Zug gegenüber saß, griff in seine Tasche und holte einen Apfel heraus. Zu meinem Entsetzen zerriss er ihn mit bloßen Händen sauber in zwei Hälften und aß anschließend beide Hälften auf. Ich war schockiert ob dieser martialischen wie überflüssigen Handlung. Meinen empörten Blick missdeutete der Mann als Interesse und begann, mir die Technik des Apfelzerreißens zu erklären. Ich tat desinteressiert, folgte zu Hause aber seiner Anleitung und zerriss meinen ersten Apfel! Seitdem zerreiße ich fast alles: Kohlrabi, Kokosnüsse, anderer Leute Bluetoothboxen im Park, lästige Straßentauben, schwer zu öffnende Schmuckschatullen. Vielen Dank an den Mann im Zug, dafür, dass er mein Leben von Grund auf verbessert hat.

Clemens Kaltenbrunn

 Krasse Segregation

Wer bestimmten Gruppen zugehört, wird auf dem Wohnungsmarkt strukturell diskriminiert. Viele Alleinstehende suchen händeringend nach einer Drei- oder Vierzimmerwohnung, müssen aber feststellen: Für sie ist dieses Land ein gnadenloser Apartmentstaat, vor allem in den Großstädten!

Mark-Stefan Tietze

 Der kästnerlesende Kniebeuger

Es gibt nichts Gutes
Außer man Glutes.

Sebastian Maschuw

 Ein Lächeln

Angesichts der freundlichen Begrüßung meinerseits und des sich daraus ergebenden netten Plausches mit der Nachbarin stellte diese mir die Frage, welches der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen sei. Sie beantwortete glücklicherweise ihre Frage gleich darauf selbst, denn meine gottlob nicht geäußerte vage Vermutung (Geschlechtsverkehr?) erwies sich als ebenso falsch wie vulgär.

Tom Breitenfeldt

 Claims texten, die im Kopf bleiben

Ist »Preissturz bei Treppenliften« wirklich eine gute Catchphrase?

Miriam Wurster

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster