Inhalt der Printausgabe
Hårhårhårhårhår
von Ella Carina Werner
Die Kolumne ist diesmal nicht düster, deprimierend und schnapsgeschwängert, sondern gut gelaunt und lichtdurchflutet, wie Sommerkolumnen zu sein haben. Man darf nicht immer nur zu Hause hocken und den Flur auf und ab berserkern wie Harald Martenstein. Es geht nach Dänemark. O Dänemark!, rufen die norddeutschen Kinder und simulieren Würgegeräusche, weil sie lieber nach Ibiza oder Kalifornien wollen, aber die Eltern sie jedes Jahr in den hohen Norden schleppen. Dänemark: Eldorado hanseatischer Bürgersfamilien und Grünen-Wähler, und ein paar Hessen und Franken sind auch noch darunter, auch wenn die doch jederzeit nach Italien oder Kroatien fahren könnten, wie dänemarkvernebelt kann man eigentlich sein?
Ob in Hessen, Franken oder in Norddeutschland, seit ein paar Jahren sieht man in deutschen Städten immer mehr Lastenfahrräder umhergondeln. Ob gemütlich juckelnd oder wie die gesengten Säue brettern sie durch Fußgängerzonen, über Schnellstraßen und holperiges Kopfsteinpflaster, so holperig, dass sich die ein bis zwei Kinder vorne im Transportkasten beinahe übergeben. Am Lenker: mittelalte Frauen und Männer mit freudestrahlendem Blick. Zufrieden, ganz vorne mit dabei zu sein auf dem Weg Richtung 22. Jahrhundert – nicht ahnend, dass sie ihre Möglichkeiten in Wahrheit nicht ausschöpfen.
Ich war schon oft in Kopenhagen und kann berichten, die Kopenhagener haben alle Lastenräder, aber nutzen sie völlig anders.
Erwachsene kutschieren nicht nur Kinder herum, sondern am liebsten einander. Männer befördern Frauen und andersherum. Junge Menschen fahren alte Menschen, reiche Menschen fahren sehr reiche Menschen und klapprige Greisinnen die blühendsten Hipster, einfach so, um gängige Rollenerwartungen zu unterlaufen. Man stelle sich nur um 17 Uhr an den Straßenrand, wenn zur allgemeinen Feierabendzeit sämtliche Einwohner der milden dänischen Abendsonne entgegen radeln. Was da alles in den Kästen hockt! Damen und Herren in Businesskleidung, in der linken Hand eine Dose Carlsberg, in der rechten eine von Tuborg. Menschen im Lotussitz. Mit Laptop. Mit Strickset. Im Festgewand, in schlichten Uniformen und edelsten Amtsroben. Einmal sah ich gar einen Geistlichen, die weiße Halskrause vom Fahrtwind lustig zerzaust.
Da in Kopenhagen die Anzahl der Sehenswürdigkeiten übersichtlich ist, kann man getrost den halben Tag damit verbringen, all die zwischenmenschlichen Konstellationen zu bestaunen.
Eine junge, lächelnde Frau chauffiert einen alten, überhaupt nicht lächelnden Herrn. Ist sie seine Ehefrau, seine Sterbebegleiterin oder beides zugleich? Im nächsten Lastenrad zwei Männer mit Nerzmützen: womöglich einer dieser stadtbekannten Nerzzüchter und sein Nerzzüchtergeselle. Dann wieder eine rüstige Frau im Hauskleid, im Transportkasten ein junger Spund mit Oberlippenflaum. Vermutlich eine Haushälterin und ihr Untermieter, der noch ein wenig grün hinter den Ohren ist und zu blöd, den Weg zum Erstsemester-Seminar allein zu finden. Das gibt einen saftigen Preisaufschlag, was der begüterte Doofkopp bei der Monatsabrechnung jedoch nicht merkt.
Gemeinsam drinkken, dansen, bømsen: Ein ganzes Volk auf Augenhöhe.
Einmal bewohnte ich in Kopenhagen ein, klar, überteuertes Hostelzimmer. Schräg unter mir, an der Gothersgade, befand sich eine Ampel. Jeden Abend hielt dort dasselbe zitronengelbe Lastenrad. Auf den Pedalen ein älterer Herr im Anzug, in seinem Kasten eine schlecht gelaunte junge Frau in gleicher Garderobe. Beide trugen an der Brust dasselbe Firmenschild. Es waren, so stand es zu vermuten, ein Arbeitgeber und seine Praktikantin, und wie sehr wünschte sie sich fort. »Super spændende praktikom!« hatte es in der Ausschreibung vollmundig geheißen. Bezahlung: leider keine, aber für kostenlose Hin- und Rückfahrt sei gesorgt. Da freute sich die junge Frau schon auf das ÖPNV-Monatsticket, und dann das. Lieber würde Gyda, wie sie wohl hieß, so grantig, wie sie guckte, mit ihren Freundinnen noch eine Weile am Nyhavn herumstreunen, eine Stippvisite an die Ostsee machen oder ein paar Überstunden, um den Nerv-Boomer endlich loszuwerden. Nichts als strunzblöder Smalltalk (»Allet okay?«), und außerdem sieht er von da oben ihre Schuppen. Aber man macht keine Überstunden in Dänemark, das gilt als Ausweis von Missmanagement und Beklopptheit, was es ja auch ist.
Der Betreiber des Hostels erzählte mir, er oder seine Frau holten ihren pickligen Sechzehnjährigen nach Discobesuchen stets mit dem Lastenrad ab. Das ist eine schöne Vorstellung. So fürsorglich und achtsam sollten alle Eltern sein. Bevor der Sohnemann am Abend Richtung Disco abschwirrt, fleht er seine Erzeuger auf Knien an, nicht direkt vor dem Eingang zu halten, sondern in einem schattigen Hinterhof drei Straßen weiter. Weil er um 01.30 Uhr aber natürlich nie am Treffpunkt ist, fährt die Mutter dann doch frontal vor den Viking-Punk-Club, klingelt mit der riesigen Fahrradklingel und zetert auf Dänisch irgendwas von Zapfenstreich und andere Leute wollen auch mal in die Falle. Der Filius tritt den Joint aus, schlappt herbei und überredet seine Mutter, einen Kifferkumpel und seine neue Bumsbekanntschaft auch noch mitzunehmen. Nul problemer! Wenig später strampelt Møddern die drei über den einzigen Hügel der Stadt. Die Halbstarken grölen die dänische Nationalhymne, und am lautesten grölt die Mutter. Und so wird es noch in zehn, fünfzehn Jahren sein, falls der Lausejunge nicht schon eher flügge wird, was sie aber nicht hofft.
Vilma (43), freihändig fahrend, fotografiert von Mads aus dem Transportkasten ihres Lastenrads.
Ein andermal sah ich auf den Pedalen eines Lastenrads eine betagte, irgendwie nobel wirkende Dame, vielleicht die dänische Königin Margrethe und ihre Putzhilfe. Jeden Morgen holt sie den netten Mann aus seinem übel beleumdeten Viertel ab und bringt ihn wieder heim. Was jeder weiß: Die Dänen sind eine egalitäre Gesellschaft, getreu dem jahrhundertealten »Janteloven-Kodex«: Kein Mensch ist besser als der andere. Ein »wahnsinnig schöner« (Franziska Giffey) Verhaltenskodex, der die gesamte Gesellschaft durchdringt. Gleichheit im Straßenverkehr, Gleichheit bei der Arbeit, ja sogar beim Königlich Dänischen Militär. In Sachen Heeresführung kommt man mit nix zu Potte, aber alle bewahren ihre Integrität.
Herrlich, ein ganzes Volk auf Augenhöhe. So wie, auf einem lackschwarzen Lastenrad, das ich öfter sah, jene Ex-Ehepartner, die aber noch gut befreundet sind und ab und an miteinander fikken, das geht in Dänemark. Die beiden Endvierziger holen einander stets aus dem Büro ab, als Geste des fortwährenden gegenseitigen Respekts. So viel Respekt, dass sie sich alle paar hundert Meter mit dem Treten abwechseln. Die Idioten kommen so natürlich kaum vorwärts, haben aber ein gutes Gefühl.
Ganz anders jenes ungleiche Gespann, das ich im Botanical Garden entdeckte. Auf den Pedalen ein drahtiger Bursche mit verschlagenem Grinsen und zweifelhaftem Migrationshintergund, vermutlich ein Norweger. Vor ihm im Kasten saß ein piekfein gekleideter Senior, der lautstark krakeelte. Ich verstand nur Wortfetzen, »Hold op, idiot!« und »Kakkerlak!«. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat der junge Mann den alten aus einer Reichegreiseresidenz entführt. Entführungen per Lastenrad sind noch ungewohnt, aber nicht unmöglich. Als der Alte plötzlich verstummte, fragte ich mich, ob er noch lebte, aber das fragt man sich bei Dänen oft. Möglicherweise war der alte Knabe aber doch der Großpapa. Plan des ausgebufften Enkels: durch charmanten Support im Alltag den größten Batzen des Erbes einzusacken und so die 13 Mitenkel auszustechen. »Fuck Janteloven-Kodex, hårhårhår!« Dieser Oldschoolkodex ist dem seelenlosen Yuppie doch scheißegal, das ist doch nur so ein Ding in Marco-Polo-Reiseführern, weil die Deutschen nach dieser Egalitäts-Folklore lechzen, sonst kommen sie nicht mehr.
Auch der Hostelbetreiber ist der Meinung, dass es mit dem Gleichheitsgedanken nicht weit her ist, als ich ihn nach dieser Janteloven-Sache fragte. Er lachte sein dreckiges dänisches Lachen. Gleichheit und Respekt? Man mauere sich gegen Geflüchtete ein, habe halb Grönland abgeschlachtet und nenne die Deutschen Arschbananen, aber nur hinter ihrem Rücken.
Wenn das Gleichheitsgebot aber doch nicht viel taugt, welche gesamtgesellschaftliche Bedeutung hat diese Form des Miteinanderradels dann? Was sagt das über das Seelen- und Sozialleben unserer nördlichen Nachbarn aus? Treibt sie die Angst vor dem Alleinsein, derentwegen andere Leute zu zweit aufs Klo gehen? Vermittelt das Sitzen im Transportkasten ein gutes, pränatales Gefühl der Geborgenheit? Oder ist es am Ende doch wieder so ein sublimes Machtding, um einander zu unterjochen, auch wenn ich nicht weiß, wer wen? Teufel auch, ich habe keine Ahnung, aber das habe ich ja auch nicht behauptet.
Und da geht es auch schon zurück nach Deutschland. O Deutschland!, jubeln die dänischen Kinder, weil das so herrlich nach Urlaub klingt, weil das das geliebte Transitland ist, nach Kroatien oder Italien. Deutschland, wo auf den Lastenrädern immer nur Eltern und Kleinkinder sitzen. Eltern und Kleinkinder, die langweiligste zwischenmenschliche Konstellation der Welt.
Dass hierzulande irgendwann auch Erwachsene in den Transportkästen Platz nehmen, kann ich mir kaum vorstellen. Hier wäre es nur wieder kompliziert, wer wen kutschiert. Bis kniggemäßig ausgeknobelt ist, wer der Ranghöhere und -niedere ist, kann man zu Penny auch zu Fuß gehen.
Deutsche Männer in Transportkästen kann ich mir am wenigsten vorstellen. Harald Martenstein jedenfalls nicht, und auch nicht Mario Adorf. Würde sich Olaf Scholz von Saskia Esken durchs Regierungsviertel karren lassen oder Knieprobleme vorschützen? Der Einzige, den ich mir hierin jederzeit vorstellen kann, ist Helge Braun. Der sonnige, stets gut gelaunte Braun, auf den Lippen ein fröhlich Lied’, z.B. Ob-La-Di, Ob-La-Da von den Beatles, und der monumentale Schlüsselbund des Bundeskanzleramts, den er in der Gesäßtasche trägt, rasselt lustig mit. Und so endet diese Kolumne so wild vergnügt und sommerlich, wie sie begann.