Inhalt der Printausgabe

Grüße aus der rollenden Gruft

Wer etwas über Menschen erfahren will, kann sich dieses eine Buch von Richard David Precht kaufen oder eine Fahrt im Nachtzug buchen, das ist preislich dasselbe. Am schönsten ist es im Sechser-Sitzabteil: finster und geräumig wie eine Familiengruft, und genauso ist die Stimmung. Die Heizung muss defekt sein oder auf Anschlag bollern, um die allgemeine Aggressivität noch weiter zu befeuern, bis zum Morgengrauen, bis die Sonne durchs trübe Fenster blinzelt und der lattenstramme Schaffner in der Tür.

Nachtzüge – Pioniere modernen Kastendenkens. Fein leben lässt es sich im Schlafwagen ...


Man muss nur still und eingezwängt dasitzen und dem Leben seine Dialoge ablauschen. Es ist wie Mitfahrgelegenheit: Menschen, bunt und brutal zusammengewürfelt, und doch, zugleich ein intimes Kammerspiel mit wiederkehrendem Ensemble. Da ist die systemkritische, ewig abgebrannte Abiturientin mit dem nachlässig hochgezwirbelten Dutt; da ist der lebensmüde Schnauzbartträger mittleren Alters und die Rentnerin mit den im Dämmerlicht aufblitzenden Goldplomben, die die ganze Nacht ihre Handtasche geräuschvoll auf- und zuklappt, aus Sorge um ihre Wertsachen und blankem Menschenhass. Und der Schaffner mit dem drolligen Dialekt, der »Fahrkarteln« oder »Kolatschen« sagt. Dabei schiebt er ein Wägelchen mit Produkten für den nächtlichen Bedarf vor sich her – Einwegzahnbürsten, Ohropax, Narkoleptika, Wiener Zirbengeist –, aber nur in meiner Fantasie. Hier muss ich erwähnen: Die Deutsche Bahn hat ihre Nachtzüge schon vor Jahren aufgegeben, aber die österreichische ÖBB fährt edelmütig auch durch unser Land. Klar, es gibt auch richtige Schlafwagen, mit Kronleuchtern, 5G-Netz, Gratis-Paradeiserschnaps und französischen Balkonen, aber die kosten das Hundertfache. Die Sitzabteile sind die Holzklasse fürs Lumpenproletariat, den gesellschaftlichen Rest: FH-Studenten, Foodora-Fahrer, Hebammen unter der Armutsgrenze und mich.

Letzten Herbst fuhr ich wieder von Frankfurt a.M. nach Hamburg. Mit mir im Abteil: eine junge Frau mit hochgebundenen Filzlocken und Mundschutz »Fck Cptlsm«, ein Glatzkopf mit Mundschutz und Schlafbrille, was seinen einzig verbleibenden Sinnesorganen (die Ohren) etwas Geheimnisvolles verlieh, und die obligatorische Alte.
Wir schliefen oder taten so, die Vorhänge gut zugezogen. Finsternis. Nur das Notlämpchen glomm. Eine fast sakrale Stimmung.
»Mooooooin zusammen!«

Göttingen, 3.46 Uhr: Ein drahtiger junger Mann im Anzug riss die Abteiltür auf. Maximilian H., Private-Equity-Manager, 27 Jahre alt, High Performer und Verlobter einer scharfen Agenturbraut, die am Hamburger Hbf. Schlag 7.52 Uhr auf ihn warte, all das erfuhren wir in den ersten 20 Sekunden. Er habe seit drei Tagen nicht geschlafen, rief er aus und raufte sich das angegelte Haar. Er habe gerade einen »Dreimilliarden-Deal eingetütet«, verkündete er, ehe er sich auf den freien Sitz neben mir plumpsen ließ. Ich erwog, aufs stinkende Zugklo zu gehen, um »Private Equity« zu googeln oder um dort weiterzudösen, hier würde es wohl nichts mehr werden. Aber dann wäre mein Leben womöglich um ein zwischenmenschlich erhellendes Gespräch ärmer, dachte ich und blieb.

Im Schummerlicht sah ich den jungen Mann von der Seite an und wurde mal wieder sentimental. Dieser knabenhafte Leistungsträger, dieser Weltenlenker könnte mein Sohn sein. Obwohl ich meinem Sohn stets raten würde, nie mit so viel Geld zu hantieren und seinen Hosenstall immer ordentlich zu schließen.

»Drei Milliarden«, wiederholte er zufrieden und öffnete eine Dose Red Bull. So langsam wurde ich wach. Drei Milliarden, das war wirklich eine sehr große Zahl. Das waren 600 000 000 passable Schlaftabletten. Das war die Summe der jährlichen Finanzflops der Deutschen Bahn.
Drei Milliarden, sagte ich, das sei eine Menge Geld. Das sei es, nickte der Strippenzieher, wobei seine Nasenlöcher vor Behaglichkeit zitterten. Drei Milliarden, brummte die Abiturientin mir gegenüber, die jetzt auch mal aufgewacht war, da müsse er doch einen hübschen Bonus eingesackt haben und sich davon einen Platz im Schlafwagen leisten können, da wäre sicher noch was frei.

»Schlaf?« Der Jungmanager lachte auf, hielt sich spielerisch eine Hand hinters Ohr: »Was ist Schlaf?« Er müsse nicht schlafen, sagte er. Nie mehr werde er schlafen, tönte er, so leistungsbereit, wie er sich fühle, bei all dem Adrenalin, das durch seine Venen rausche, plus literweise Energy Drinks. Schlaf sei was für Lehramts-Studis oder britische Anleger altbackener Pensionsfonds, die er gerade über den Tisch …, »aber pssst!« grinste er und zwinkerte in die Runde.

Er sagte, er sei »auf Red Bull«, aber ich glaube, er war noch auf etwas Härterem, Africola oder Club Mate oder so, so hibbelig, wie er seinen Ellenbogen dauernd gegen meinen Oberarm rammte.
Er arbeite 100 Stunden pro Woche, sagte er und legte eine kleine Kunstpause ein. »Minimum!«
Jetzt konnte ich erst recht nicht mehr schlafen. »Dass andere so viel leisten können«, meldete sich mein schlechtes Gewissen. Das seien ja 20 Stunden am Tag. Da bliebe ja nur noch das Wochenende. »Wochenende? Welches Wochenende?« wieherte der Finanzfuchs.

Die Abiturientin knurrte, sie würde ihm gleich drei Milliarden Mal gegen sein ADHS-krankes Knie treten, wenn er nicht aufhörte, mit diesem das ihrige zu traktieren. Sie ließ noch ein paar Worte fallen, darunter »Kapitalistensau«, »Heuschrecke« und »Finanzfaschist«. Er hielt mit »Wasch dir erst mal deine Haare!« argumentativ dagegen. Ich dachte an die Szene in »Mord im Orient-Express«, in welcher ein Fahrgast durch zwölf Messerstiche erledigt wird, und wartete einfach ab.

Wenn er auch etwas beitragen dürfte, meldete sich der vermummte Mann in der Ecke und zog seine Schlafbrille hoch: Dolle Sache, dass die jungen Leute heute wieder so fleißig seien! Übrigens sei er auch Manager. Facility-Manager. »Hausmeister«, korrigierte der Grünschnabel neben mir, während er gierig mein plattgedrücktes Crobag-Croissant fixierte, das aus meinem Rucksack ragte.
»Zwanzig Euro«, sagte ich gewitzt. Ich bin auch Managerin, Familienmanagerin, denn so nennt man moderne Mehrfachmütter heute. »Scheiße Mann, ich sitze hier mit einem Haufen neoliberaler Arschlöcher!« wisperte die Abiturientin in ihr Handy.

Die einzige, die noch gar nichts gesagt, ja nicht mal die Augen geöffnet hatte, war die Alte. Ich glaube, sie war Anarchistin oder KGB-Agentin, das erkannte ich an ihrem orthopädischen Schuhwerk und dem seelenlosen Pokerface. Sie schien zu schlafen, in den Ohren Schaumstoffstöpsel oder die Trockenpflaumen, an denen sie vorhin bei Fulda noch genagt hatte, und ich fragte mich, was sie unter ihrer schief geknöpften Strickjacke versteckte, Wertsachen oder eine Knarre.

... und sterben im Sitzabteil.


Gern hätte ich mehr über die wundersame Berufswelt des Private-Equity-Managers erfahren. Leider kamen er und der Hausmeister von Buy-out und außerbörslichem Eigenkapital dann ziemlich schnell zu Gott. Um Gott geht es im Nachtzug am Ende immer. Die letzten zwei Stunden versuchten die beiden, sich über existentielle Themen zu unterhalten – Zukunft, Religion, die kleinen Brüste von Katja Kipping –, aber es geriet eher ungelenk, fast rührend. »Fresse«, murmelte die Abiturientin alle paar Minuten, um dem Gespräch wenigstens etwas Verve zu geben.

»Glauben Sie, es gibt die Hölle?« raunte der Hausmeister, aber niemand hatte eine rechte Ahnung, außer dem Schaffner, der, ab Uelzen in der Abteiltür lehnend, verlauten ließ, man befinde sich bereits mittendrin. Kurz darauf sackte der Kopf des blutjungen Karrieremachers endgültig auf meine Schulter. Im Halbschlaf murmelte er noch etwas von Risiko- und Wagniskapital, Targets und einer kuscheligen Bettdecke.

Vor kurzem war in der Zeitung zu lesen, die Deutsche Bahn habe eine neue »Vision«, plane nicht weniger als eine »mobile Revolution«, ja das nächste große Ding seit Einführung der geschlossenen Kacketanks unter den WCs: Nachtzüge! Sie bauen jetzt alle noch mal neu, auf Druck einer »Parlamentarier-Initiative«. »Politiker fordern Nachtzug Berlin-Brüssel«, war zu lesen, und wer will es ihnen, der ewigen Flixbusfahrerei überdrüssig, verdenken. Ich stelle mir das gerne vor: Katarina Barley, Manfred Weber, Ska Keller, Jörg Meuthen, Martin Sonneborn und ein lettischer Sozialliberaler, der immer am Berliner Hbf. zusteigt, gemeinsam in einem Abteil. Mehr Knisterspannung geht nicht. Bringen sie sich gegenseitig um? Wo verstecken sie ihre Wertsachen? Betet Manfred Weber heimlich vorm Einschlafen? Hängt Ska Keller ihren Fjällräven-Kulturbeutel im WC-Raum an den Griff des Seifenspenders? Plopp, fällt er wieder herunter in die Siffbrühe, aber die sympathische Grüne bleibt wie immer superentspannt.

Was folgt: Flaschendrehen, Mutproben mit der Notbremse, Wodka Bull und die zartesten Parlamentariergespräche, über Liebe in Zeiten der Pandemie, die neuesten Thermomix-Rezepte, Gott und politische Theorie. Sonneborn zitiert Bakunin, Meuthen hält mit Heidegger und Hitler dagegen, und am Ende reihert jemand in den Klappmülleimer (ich tippe auf Barley).

Hamburg, 7.52 Uhr: Am Hauptbahnhof hob ich das kahle Kinn des Managers von meiner Schulter. Ehe wir anderen ausstiegen, legten wir den juvenilen Leib vorsichtig über drei Sitze, so kriegte er noch ein paar Stunden Schlaf bis Endstation Sylt. Auf Sylt fallen ein paar Milliarden mehr oder weniger auch nicht mehr auf.

Ich verließ den Bahnhof und schlappte hinein in die Innenstadt, ins pralle Metropolenleben, wo künftig diese Kolumne spielt. Denn eine weltläufige Großstadtkolumne soll dies von nun an sein.


Ella Carina Werner

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Keine Übertreibung, Mathias Richling,

sei die Behauptung, dass die Ampel »einen desaströsen Eindruck bei jedermann« hinterlasse, denn in den vielen Jahren Ihrer Karriere, so schilderten Sie’s den Stuttgarter Nachrichten, hätten Sie es noch nie erlebt, »dass ohne jegliche pointierte Bemerkung allein die bloße Nennung des Namens Ricarda Lang ein brüllendes Gelächter auslöst«.

Aber was bedeutet das? »Das bedeutet ja aber, zu Mitgliedern der aktuellen Bundesregierung muss man sich nichts Satirisches und keinen Kommentar mehr einfallen lassen.« Nun beruhigt uns einerseits, dass Ihr Publikum, das sich an Ihren Parodien von Helmut Kohl und Edmund Stoiber erfreut, wohl immerhin weiß, wer Ricarda Lang ist. Als beunruhigend empfinden wir hingegen, dass offenbar Sie nicht wissen, dass Lang gar kein Mitglied der aktuellen Bundesregierung ist.

Muss sich dazu nichts Satirisches und keinen Kommentar mehr einfallen lassen: Titanic

 Huhu, »HNA« (»Hessische/Niedersächsische Allgemeine«)!

Mit großer Verblüffung lesen wir bei Dir in einem Testbericht: »Frischkäse ist kaum aus einem Haushalt in Deutschland wegzudenken.«

Och, Menno! Warum denn nicht? Und wenn wir uns nun ganz doll anstrengen? Wollen wir es denn, HNA, einmal gemeinsam versuchen? Also: Augen schließen, konzentrieren und – Achtung: hui! – weg damit! Uuuund: Futschikato! Einfach aus dem eigenen Haushalt weggedacht. Und war doch überhaupt nicht schlimm, oder?

Es dankt für die erfolgreiche Zusammenarbeit und hofft, einen kleinen Denkanstoß gegeben zu haben, wenn nicht gar einen Wegdenkanstoß: Titanic

 Damit hast Du nicht gerechnet, »Zeit online«!

Als Du fragtest: »Wie gut sind Sie in Mathe?«, wolltest Du uns da wieder einmal für dumm verkaufen? Logisch wissen wir, dass bei dieser einzigen Aufgabe, die Du uns gestellt hast (Z+), erstens der zweite Summand und zweitens der Mehrwert fehlt.

Bitte nachbessern: Titanic

 Sie, Romancier Robert Habeck,

Sie, Romancier Robert Habeck,

nehmen Ihren Nebenjob als Wirtschaftsminister wohl sehr ernst! So ernst, dass Sie durch eine Neuauflage Ihres zusammen mit Ihrer Ehefrau verfassten Romans »Der Tag, an dem ich meinen toten Mann traf« versuchen, fast im Alleingang dem darniederliegenden Literaturmarkt auf die Sprünge zu helfen. Könnten Sie sich als Nächstes das Zeitschriftensterben vorknöpfen?

Fragt Titanic

 Ganz, ganz sicher, unbekannter Ingenieur aus Mittelsachsen,

dass Du Deine Verteidigungsstrategie nicht überdenken willst? Unter uns, es klingt schon heftig, was Dir so alles vorgeworfen wird: Nach einem Crash sollst Du einem anderen Verkehrsteilnehmer gegenüber handgreiflich geworden sein, nur um dann Reißaus zu nehmen, als der Dir mit der Polizei kommen wollte.

Die beim wackeren Rückzug geäußerten Schmähungen, für die Du nun blechen sollst, wolltest Du vor dem Amtsgericht Freiberg dann aber doch nicht auf Dir sitzen lassen. Weder »Judensau« noch »Heil Hitler« willst Du gerufen haben, sondern lediglich »Du Sau« und »Fei bitter«. Magst Du das nicht noch mal mit Deinem Rechtsbeistand durchsprechen? Hast Du im fraglichen Moment nicht vielleicht doch eher Deinen Unmut über das wenig höfische Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers (»Kein Ritter!«) geäußert, hattest Deinen im selben Moment beschlossenen Abschied von den sozialen Medien (»Bye, Twitter!«) im Sinn, oder hast gar Deiner verspäteten Freude über die olympische Bronzemedaille des deutschen Ruder-Achters von 1936 (»Geil, Dritter!«) Ausdruck verliehen?

Nein? Du bleibst dabei? Und würdest dafür sogar ins Gefängnis gehen (»Fein, Gitter!«)?

Davor hat fast schon wieder Respekt: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nachwuchs

Den werdenden Eltern, die es genau mögen, empfehle ich meinen Babynamensvorschlag: Dean Norman.

Alice Brücher-Herpel

 Süße Erkenntnis

Für jemanden, der Pfirsich liebt, aber Maracuja hasst, hält die Welt viele Enttäuschungen bereit.

Karl Franz

 Dilemma

Zum Einschlafen Lämmer zählen und sich täglich über einen neuen Rekord freuen.

Michael Höfler

 3:6, 6:7, 0:6

Der Volontär in der Konferenz der Sportredaktion auf die Bitte, seine Story in drei Sätzen zu erzählen.

Ronnie Zumbühl

 Hellseherisch

Morgen ist einfach nicht mein Tag.

Theo Matthies

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
05.12.2023 Frankfurt am Main, Club Voltaire »TITANIC-Peak-Preview« mit Stargast Til Mette
06.12.2023 Oldenburg, Wilhelm 13 Bernd Eilert mit Sandra Kegel und Klaus Modick
06.12.2023 Berlin, Das ERNST Hauck & Bauer mit Kristof Magnusson
07.12.2023 Bad Homburg, Kulturzentrum Englische Kirche Pit Knorr & Die Eiligen Drei Könige