Inhalt der Printausgabe
Im frühen Herbst reiste ich mit meiner Gefährtin nach Bulgarien. Man hatte uns gewarnt, daß wir uns nicht zurechtfinden würden. Die Bulgaren seien die einzigen EU-Bürger, die das kyrillische Alphabet benutzten, und sie seien frecherweise auch noch stolz darauf. Ende des 9. Jahrhunderts nämlich sei dieses nahezu undurchschaubare Zeichensystem von seinen Erfindern, den Missionarsgebrüdern Kyrill und Method, als erstes nach Bulgarien gebracht worden. Da man es dort nach über 1000 Jahren halbwegs beherrsche, gelte es seinen Einwohnern nicht nur als Ausweis höchster Bildung und Kultur, sondern auch als ständiger Marathon fürs Hirn.
Wir waren mit derart viel Bildung und Kultur allerdings überfordert. Auf unserer herbstlichen Tour entlang der Schwarzmeerküste verirrten wir uns regelmäßig in einem undurchdringlichen Buchstabendickicht, aus dem wir nur herausfanden, weil mitleidige Bulgaren ihre Schilder, Tafeln und Karten immer häufiger mit mehrsprachigen Übersetzungen ausstatten. Am hilfreichsten erwies sich dabei die Menükarte des Restaurants »Čučura« in der Hafenmetropole Varna. Hier haben die Übersetzer ein wirklich bezauberndes Stück Arbeit vorgelegt.
In jenes Lokal hatte uns übrigens der Reiseführer aus dem Michael-Müller-Verlag geschickt. Er verhieß eine »gute bulgarische Küche in einem schönen Wiedergeburtshaus« sowie folgende Kuriosität: »Die Speisekarte besteht aus einem Stück Holz, in das die Namen der Gerichte eingraviert wurden.« Nun war der Reiseführer allerdings schon fünf Jahre alt und unsere Enttäuschung zunächst groß, als wir von der Bedienung eine neue, handelsüblich laminierte Karte überreicht bekamen. Aber nicht lange!
Bald nämlich fächerte sich ein dreisprachiger Reigen einheimischer Köstlichkeiten vor uns auf. Bei den Salaten begegnete uns zum Beispiel eine Sensation namens »Staroselska« (engl.) bzw. »Alt Salat« (dt.), mit einer pikanten Zutat von der anderen Seite der Welt, die nur in der englischen Version offengelegt wird:
Mmmh! Roasted aborigines! Die hatten wir immer schon mal kosten wollen. Doch drängten unsere Körper nicht ganz woanders hin? Zum »Omelette« beispielsweise, das erst in der deutschen Fassung geheimste Phantasien aufsteigen läßt:
Oder zum »Rabbit Hunter’s Style«, eine Speise, die nur dem deutschen Gast ein zünftiges Abenteuer verspricht:
Ebenfalls abenteuerlich präsentiert sich die »Roasted Ham Hock« – für Engländer ist es lediglich eine gebratene Schweinehaxe, für uns Deutsche etwas ungleich Prickelnderes:
Von einen angenehm unsentimentalen Umgang mit der zu verspeisenden Tierwelt kündet auch folgendes Gericht – in der deutschen Version vielleicht noch eine Spur archaischer:
Berühmt ist die bulgarische Küche indes für ihre Salate und Gemüsegerichte, die dem Reisenden auf ganz unterschiedliche Weise schmackhaft gemacht werden. Der altmodische Engländer kriegt sein »Kyopoolo in an old-fashioned way«, uns gewohnheitsliebenden Deutschen kommt man anders entgegen:
Wie gewohnt – also vermutlich wieder mit gerösteten australischen Ureinwohnern. Möchte der Gast dazu jedoch ein wenig Brot bestellen, braucht er als Angelsachse einfach nur zuzugreifen, während er als Germane unversehens in die moderne Welt des Internets gestoßen wird:
Rätselhaft? Nur auf den ersten Blick. Den Übersetzern ist hier ein verzeihlicher Flüchtigkeitsfehler unterlaufen. Wer aus dem kyrillischen Alphabet ins Englische und von dort aus ins Deutsche überträgt, verwechselt halt schnell mal die lateinischen Zeichenfolgen »Homemade« und »Homepage«. Mehr als wettgemacht wird dieser Lapsus durch die einzigartige Wendigkeit und die überwältigende Poesie, mit denen sich die Übersetzer durch die Sprachen bewegen, selbst wenn es nur um eine geschmorte Rinderzunge geht:
Ab Januar genießen Arbeitskräfte aus Bulgarien innerhalb der EU volle Freizügigkeit. Sollten sich einige von ihnen als nur halb so gut erweisen wie die Speisekartenübersetzer an der Schwarzmeerküste, braucht uns um Europas Zukunft nicht bange zu sein. Denn dank der großen Aufklärer Kyrill und Method wissen sie: Sprache in Butter – alles in Butter!
Mark-Stefan Tietze