Inhalt der Printausgabe
Europa ist eine verzwickte Angelegenheit. Das Geld, das die Iren einsparen, geben die Spanier aus; was die Italiener verprassen, wird in Griechenland ins Pfandhaus gebracht; und wenn Deutschland das alles bezahlt, führt die Schweiz das Haushaltsbuch. Und darf prächtig mitverdienen!
Was aber ist der Dank der Schweizer? Irrsinige »Kurtaxen« auf Hotelrechnungen, minderwertige Lindt-Schokolade im Rewe, gräßliche Krächzlaute. Und Ausländerfeindlichkeit: Im Mai hetzte die Abgeordnete der rechtspopulistischen SVP Natalie Rickli als Gast der Talkshow »Tele Züri« gegen deutsche Einwanderer. »Zu viele Deutsche« seien im Land, die »die Schweizer von ihren Arbeitsplätzen verdrängen«; die deutschen Gastarbeiter erzeugten einen »Riesendruck auf den Schweizer Arbeitsmarkt, auf die öffentliche Infrastruktur, Straßen und Schulen« – und die haben in der Schweiz bekanntlich Museumsrang.
»Die Rickli ans Strickli!«
Ein helvetophober Mob erhebt sich in der TITANIC-Redaktion. Erst nehmen die Schweizer uns das Geld weg, dann die Krankenschwestern – und nun werden wir von dahergelaufenen Provinztrullas angefeindet! Weil wir zu fleißig sind! In der Schweiz! Ein Boykott muß her. Dieses unappetitliche kleine Hinterwäldlerland soll wieder zu Humanität und Toleranz gezwungen werden, mit sanftem, aber bestimmten Riesendruck. Und mit geschmacklosen historischen Vergleichen.
Ahnungslos grinst die Maiensonne über Frankfurt-Sachsenhausen. In den Cafés lassen die FDP-Wähler sich die Epidermis verkokeln, von den Dächern pfeifen die Spatzen Platitüden. Mit mählich wachsendem Interesse mustert eine Bettlerin die drei Braunhemden, die sich am U-Bahn-Eingang »Schweizer Platz« zu schaffen machen. Zwei Tesafilm-Batzen und ein linkisch gedrucktes Plakat, mehr braucht es nicht, um den Kniefall vor dem ungnädigen Käseland rückgängig zu machen – und die Station »Deutscher Platz« zu taufen. Ebenso flott entrollt sind die Plakate mit der ohrengängigen Parole »Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Schweizern!«, ausgegeben von Propagandaredakteur Mark-Stefan Tietze. Eine lebensgroße Allegorie des »Ewigen Schweizers«, die Taschen voll mit Nazigold und Toblerone, sowie ein Schwung ricklifeindlicher Hetzschriften runden das TITANIC-Empörungsspektakel ab. Redakteur Gaitzsch singt sein »Schweizboykott, großer Schweizboykott« in die Gassen.
Die Begeisterung der Sachsenhäuser ist mit Händen zu greifen: »Was ist denn das für ein Scheißdreck?« staunt eine junggebliebene Faltmamsell, ihre Freundin erklärt: »Das sind ja Arme. Das sind ja ganz Arme.« Fraktur, Militäroutfit und einfache Lösungen – eine Ästhetik, an der man nicht vorbeikommt! Leider scheint unsere Botschaft fast unterzugehen, so oft werden wir fotografiert und bewundert. Ein rüstiger Radler will es genau wissen: »Erklärt mir eines: Eure Kluft hier, ist das organisiert oder gibt es da mehrere?« – »Momentan sind wir nur drei.« Die Kluft weiß er allerdings richtig einzuordnen: »Aber eigentlich seid ihr von den Piraten, oder?« – »Gott bewahre, mit Piraten haben wir nichts zu tun!«
Ein eigener Staat für die Schweizer – auf Madagaskar
Während wir ersten Sympathisanten mit Schweizhaß (»denen geht’s doch nur ums Geld«) aus unserer Broschüre vorlesen, knipst uns ein Profifotograf wie wild, gibt gar Regieanweisungen. Er mache gerade »ein Projekt mit jungen Leuten über den Zweiten Weltkrieg und so«. Ganz sicher ist er sich nicht, ob die Zeterweiber hier (»Volksverhetzung, oder was?!«) es überhaupt »wert sind, angesprochen zu werden«, gibt aber zu: »Bekloppte gibt es schließlich überall!« Die drei kostümierten TITANIC-Herren mit dem Hitlerfimmel nicken unbekloppt. Sie wissen: Auch ansprechensunwertes Leben muß über die Schweizer Fremdenfeindlichkeit aufgeklärt werden!
Leider vermögen nicht alle Insassen Sachsenhausens eine antirassistische Initiative zu würdigen, die in SA-Uniformen daherkommt. Ein schwarzgekleideter, adipöser Opa stänkert: »Man sieht euch eure Intelligenz an!« – »Danke!« – »80 bis 100, mehr paßt da nicht rein.« – »Das reicht doch.« – »Ihr seid doch bekloppt!« – »Ich glaube, Sie mißverstehen unsere Absichten.« – »Mir geht es um euer Auftreten. Wir hatten hier schon mal einen Anstreicher!« – »Aber der war sehr erfolgreich!«
Eine Frau, die bisher an Ihrem Smoothie-Halm nagte, stürmt auf uns zu: »Diese Schrift, das ist doch eine Nazischrift! Das macht doch nicht mal mehr die FAZ!« Rädelsführer Rürup deeskaliert geschwind: »Keine Angst, mit der FAZ haben wir nichts zu tun. Wir protestieren gegen Rassismus! Gegen Rassismus in der Schweiz.« – »Aber warum nehmen Sie denn diese Runen? Sie machen mir Angst damit!« – »Aber anders hätten wir doch nie Ihre Aufmerksamkeit gewonnen!« Nach und nach sickert ihr die Schamesröte in die Krähenfüße: »Ach Gott, jetzt verstehe ich. Ich dachte, hier sind die Rechten am Start.« – »Nein, es geht gegen die Schweizer und deren Ausländerfeindlichkeit. Wehret den Anfängen!« – »Da bin ich beruhigt. Ach, ich habe immer noch so eine Wut im Bauch, mir ist noch ganz schlecht.« – »Dann nehmen Sie diese Wut und richten Sie sie gegen die Schweiz!« Erleichtert verläßt sie den Platz Richtung »Deutsche Straße«. Unsere Rechnung geht auf: Sobald sie merken, daß sich unsere Aktion nicht gegen Ausländer, sondern nur gegen Schweizer richtet, sind die Leute ganz bei uns.
»Die Berge sind hohl, Leute!«
Drei migrationshintergründig lächelnde Jugendliche motzen: »Whooo! Was habt ihr gegen die Schweiz? Ist doch cool. Da gibt’s gute Schokolade!« Abgeklärt gibt Ihnen Cis-Alpinist Fischer Rührseliges zum Besten – von seinen in der Schweiz lebenden Angehörigen: »Sie dürfen keine Schweizer heiraten, sie dürfen keine Minarette bauen, auch als Christen nicht, und wenn die nur irgendeinen Strafzettel bekommen, dann sind sie dran, dann müssen die zahlen!« Eine Großmutter pflichtet en passant bei: »Ein Wunder, daß die da überhaupt noch wen reinlassen!« Schließlich schaltet sich auch noch die Verkäuferin der Damenschuhboutique »Galosche« ein: »Ich habe da gestern was im Fernsehen gesehen. Die Gesetze da drüben müssen anders werden. Was meinste, warum die Schweiz so teuer ist?«
Immer heller flackert der Fackelschein der Lynchjustiz über den Platz. Doch bevor erste Exilschweizer an den Laternen baumeln, trifft gerade noch rechtzeitig die Polizei ein. »Ist das hier eine politische Veranstaltung?« – »Ja.« – »Sie wissen, daß es Uniformverbot gibt bei Demonstrationen?« – »Nein.« – »Sie wissen, daß Sie nichts bekleben dürfen?« – »Nein.« – »Wollen Sie denn noch irgendwo anders hin?« – »Ja, in die Innenstadt, wir wollen dort Schweizer Geschäfte besuchen.« – »Gut, das dürfen Sie. Das nächste Mal aber bitte vorher anmelden!« Gott sei Dank! Die Staatsmacht ist auf unserer Seite! Auch sie hat die endlosen Provokationen des raffenden und schachernden Schweizer Rassistenvolks gründlich satt.
Hier fliegen gleich die Löcher in den Käse
Mit polizeilichem Segen fahren wir zum »Swatch Store« im Steinweg. Kaum haben wir unsere mobile Mahnwache vor dem Plastikhökerer positioniert, kommt ein kleines blasses Schweizerliebchen herausgerannt. Ist sie im Ort das größte Schwein, läßt sie sich nur mit Schweizern ein? Sie möchte verbieten, daß das Geschäft abgelichtet wird, was so ziemlich jedem deutschen Gesetz widerspricht, das wir kennen. Glaubt sie, daß sie die groteske Willkürjustiz ihrer feinen Schweizer Freunde hier durchsetzen kann? Ihr Protest verklingt im Sog der internationalen Unterstützung: Eine Spanierin bittet um ein Foto mit der Gruppe, schmiegt sich an braunes Leinen, ruft ihrer Freundin Launiges zu. Ein älterer Geschäftsmann mit Glatze und auch sonst »gesunder nationalistischer Einstellung« holt ganz weit aus: »Es ist eine Frechheit, daß die Schweizer bei uns so günstig einkaufen können.« Ein anderer Tagedieb jubelt ihm zu: »Die Kavallerie in die Schweiz! Demokratie ist ein zweischneidiges Schwert.« Genau darauf wollen wir hinaus: Kaum gibt man den Schweizern die Basisdemokratie, schaffen sie das Frauenwahlrecht ab, kürzen Muslimen die Bärte und den Deutschen die Löhne.
»Ich habe Angst!«
Nun bittet Rürup das stetig wachsende Publikum, ein Heidi-Bilderbuch symbolisch zu zersägen. Zwei Freiwillige sind schnell gefunden, und ein Tattoo-Hengst mit Zwillingen sekundiert: »Gut so! Wir dürfen da drüben ja auch keine Kirchen bauen!« – »Doch schon, nur dann werden sie angezündet.« – »Ja, eben!« Sogar ein Schweizer greift zur Säge: »Etwas zu zersägen ist auch ein Stück Leben«, brodelt eine Bergweisheit aus ihm heraus, und er klärt auch gleich noch ein wenig über Frau Rickli auf: »Das ist eine sehr seltsame Person. Sehr schüchtern und zurückhaltend eigentlich.« Ein anderer Säger weist auf Erfahrungen mit seiner Schweizer Mitbewohnerin hin: »Immer zurückhaltend und ein bißchen arrogant – deswegen mag man die Schweizer nicht.« Die Zivilstreife, die von der Trine aus dem Swatch-Shop herbeitelefoniert wurde, sieht das ähnlich. Nach kurzer Ausweiskontrolle und im Austausch gegen zwei Anti-Rickli-Broschüren (»als Souvenir«) dürfen wir weiterziehen. Wir wissen: Bald wird es die Polizei sein, die Schweizer Geschäfte zunagelt. So lange können wir warten. ◻
Fischer, Jožvaj / Ziegelwagner, Hintner / Rürup