Inhalt der Printausgabe

„Kommt zurück, wir brauchen euch“

Das vergessene Erbe der Deutschen – eine Spurensuche

 

Der Schandvertrag von Versailles beraubte Deutschland 1919 nicht nur seiner Ehre, sondern auch seines größten Schatzes: seiner Kolonien (der Spiegel berichtete). In den ehemaligen deutschen Gebieten regieren heute Korruption, Cholera und Kaiser Wobistu. War es das wirklich wert?

 

Die Kirche steht noch. Immerhin. Klein und unscheinbar zwischen erdrückender Repräsentativarchitektur und primitiven Plattenbauten. Um sie herum kocht ein bunter Menschenbrei – auf mittlerer Flamme, in der Hitze einer tropischen Augustsonne. Röcke in exotischen Farben flattern vorüber, wunderliche Gerüche wie von Moschus und Kokosshampoo steigen auf. Dunkle, entzündete Glutaugen mustern die Besucher aus dem Westen, neugierig tuschelt es hinter den schwarzen Schleiern rassiger junger Mädchen. Ein Polizist drückt beide Augen zu. Offensichtlich haben die wenigsten der ärmlich gekleideten Passanten deutsche Vorfahren, und noch weniger interessieren sich für die „Französisch-Reformierte Kirche“, für den merkwürdigen Fremdkörper im Stadtbild, wo sich tags wie nachts arbeitslose Jungmänner in den Migrationsvordergrund drängen.
Wie lebt es sich heute – 125 Jahre, nachdem in Deutsch-Südwestafrika (heute: „Namibia“) zum ersten Mal die deutsche Fahne gehißt wurde – in den ehemaligen deutschen Gebieten? Wirkt noch etwas vom deutschen Wesen fort, gibt es noch Spuren der – teils beachtlichen – Aufbauleistungen, welche die Deutschen einst vollbrachten? Nichts scheint darauf hinzudeuten, daß die Region, welche wir für TITANIC zwei Stunden lang durchreisten, einst deutsch war, einst „Offenbach“ genannt wurde – ist doch die heutige Bezeichnung mit ihren vielen Klick- und Kehllauten für Europäer weit schwieriger auszusprechen.

Wer von dem Hügel aus Dreck und vertrockneten Blumen, der zu zeremoniellen Zwecken im Herzen der Stadt aufgeschüttet wurde, ins weite Land blickt, in den herrlich schwefligen Sonnenuntergang, dem geht es wie eine Hose auf: Das alles war einmal deutsch, hier wurde einmal deutsch gesprochen, gedacht, gefühlt. Es war die Zeit, in der die Deutschen ihren Platz an der Sonne mit dem Handtuch reservierten – spät zwar, im Vergleich zu den aggressiven Franzosen und dem stolzen Albion, aber Wilhelm I. hatte Gerüchten vorzubeugen, an einer peinlichen Expansionsschwäche zu leiden. Auf Kaiser-Wilhelm-Land entwickelte sich ein schwunghafter Moskitohandel, in Togoland sproß der Tourismus (Slogan: „Got to go to Togo. Togo.“), in Offenbach bauten die Weißen Stahl, Zigarren und Mehrzweckhallen an. Deutsche Gelehrte brachten Bildung und Werte (Goethe!), deutsche Kaufleute Geld, Arbeit und bisher unbekannte Geschlechtskrankheiten. Gewiß: Das Nebeneinander von Einheimischen und Fremden ging nicht immer ohne Reibereien vor sich. Doch jeder hatte seinen Platz: Der eine streckte die Füße ins Meer, der andere spendete ihm Schatten und kühles Bier.

Exotik, wohin man schaut. Die Telefonhäuschen wurden in Deutschland gefertigt
Schwarz-Rot-Wein: Hier trafen sich einst die Deutschen nach getaner Kulturvermittlungsarbeit

 

Als Offenbach noch deutsch war, trafen sich Menschen aller Couleur in der „Weinkiste“. Das Lokal an der Herrngasse (eine Reminiszenz an die Verdienste des einstigen Herrnvolks) wirkt heute wie ausgetrunken. Das Schild an der Klause ist verwittert, die Rolläden auf halbmast, alle Gäste gehen durch den gleichen Eingang hinein. Ob das Weingeschäft in der überwiegend islamistisch geprägten Stadt überhaupt noch „zieht“, will uns niemand sagen. Eine gewisse Feindseligkeit schlägt dem weißen Mann entgegen. Es ist wahr: Der Kolonialismus hat auch Kratzer, kleine Schürfwunden hinterlassen, welche die Wundsalbe der Entwicklungshilfe noch nicht zu schließen vermochte. Doch was ist der Grund für den Argwohn? Liegt es nur an unserer weißen Haut, unserer weißen Großwildjägerkluft und der Reitgerte? Ist es nur unser arrogantes Herumstolzieren, sind es die vielen Photos, die wir den Einheimischen ungefragt ins Gesicht schießen? Oder sitzt der Haß tiefer? Spüren wir etwa den berühmten Rassismus gegen Weiße, wie ihn auch die hellhäutigen Farmer in Mugabes Rhodesien erdulden?
Die Kinder auf dem Spielplatz beim Büsingpalais empfangen uns freundlich. Sie wissen nichts von Vorurteilen, wissen natürlich auch nicht, daß das Palais, die Parkbänke, die Mülltonnen von Deutschen errichtet wurden. Begeistert traben die frechen kleinen Krausköpfe den Gästen aus der Fremde entgegen, ihre schmutzigen Fingerchen betasten neugierig den Saum unserer Gewänder. Halten sie uns für Götter? „Ihr seid Jägers“, stellen sie in ihrem drolligen Deutsch fest, „was jagt ihr? Hier gibt’s Eichhörnchen!“ Wir verstehen, was sie uns mitteilen wollen: Hier gibt es offenbar Eichhörnchen, Eichhörnchen aus Deutschland, eine Spezies, die sich dem Klima hier erstaunlich gut angepaßt hat. Ihre Unbefangenheit ehrt die Kinder. Wir wollen sie fragen, wie es sich hier aufwächst – ohne Leitkultur, ohne bindende Werte, ohne klares Oben und Unten. Doch als die Eltern auf uns aufmerksam werden, gehen wir lieber weiter, bevor wir in Verlegenheit kommen. Wir wollen das Angebot, eins der Kinder zu kaufen, nicht ausschlagen müssen – auch deswegen, weil wir zuwenig Glasperlen mitgebracht haben.
Die jungen Männer, die uns am Parkende entgegenkommen, mustern skeptisch unsere Ausrüstung: „Was ist das unter Ihrem Arm?“ – „Och, nichts.“ – „Kann man damit jemanden schlagen?“ – „Neeein!“ – „Zeigen Sie mal!“ – „Das ist nur ein Schuhspanner!“ Schlimm, wie die antiwestlichen Reflexe noch das harmloseste Haushaltsgerät zum Unterdrückungsinstrument umdeuten, nur weil es einer Reitgerte ähnelt. Und auch als solche benutzt werden kann. Wir hätten gut Lust, die aufdringlichen Lümmel zu züchtigen, belassen es aber bei einem schneidigen „Tschüssi!“ Sie sollen lernen, daß die  deutsche Hand nicht nur schlagen kann, sondern auch freundlich winken.

Bereitwillig informieren die Einheimischen über ihre Einöde
Im historischen „Rathaus“ regierte einst die Vernunft, heute nur die Angst und ein selbsternannter „Bürgermeister“.

 

Im komplett zersiedelten Stadtkern herrscht geschäftiges Treiben – ein Treiben, das sich photographisch kaum einfangen läßt. Es sind scheue, ursprüngliche Menschen. Kaum erblicken sie die Kamera, wenden sie den Blick ab. So mancher hat wohl etwas auf dem Kerbholz; manch anderer fürchtet, der Apparat könnte ihm die Seele rauben, in ein Photoalbum bannen oder in eine Blödelzeitschrift, die sich über Neger lustig macht. Noch immer wird man hier mit Respekt behandelt – man weiß, was man an uns hatte. Und immer noch hat: Freundlich halten wir ein Kind zurück, das bei Rot über den Zebrastreifen laufen will; loben den Inhaber des „Inferno Megastore“ für den zeitlosen Chic seiner farbenprächtigen Billigfetzen und kaufen, um die örtliche Wirtschaft zu stärken, im Mathildenviertel die traditionelle Gaumenfreude „Börek“, die wir aus Höflichkeit erst zwei Straßen später wegschmeißen. Rat und Hilfe, die das muntere Völkchen hier lange entbehren mußte.
Nur selten hören wir vorwitzige Fragen: „Was sind denn das für Sachen, die ihr da anhabt?“ – „Die sind so schön kühl!“ Die Einheimischen, an die sengende Sonne gewöhnt, betasten verständnislos unsere verschwitzten Ärmel. „Ist doch schon ganz naß!“ Wir sehen, daß die Vorzüge moderner Funktionskleidung hier noch nicht angekommen sind, daß in den vergangenen hundertfünfundzwanzig Jahren wichtige Fortschritte nicht vermittelt werden konnten. Ein einziger freundlicher Eingeborener interessiert sich für unseren Hexenkasten, möchte unbedingt mit aufs Bild, läßt seine weißen Zähne blitzen. Die Kamera nimmt ihn ins Visier, wir drücken ab. Artig reicht er uns die Hand zum Dank. Haben deutsche Manieren, deutsche Toleranz in seiner einfachen, aber großen Seele Wurzeln geschlagen?

Traditionshandwerk Schwarz-Weiß-Malerei
Spuren deutschen Sagenguts quaken aus besseren Tagen

 

Fernab des Trubels, mitten im Ghetto am „Großen Biergrund“, der an Zeiten erinnnert, da es noch Grund zum Feiern gab, finden wir einen letzten deutschen Gruß. An einem gott- und kindsverlassenen Spielplatz erhebt sich tapfer, wie das Totem eines vergessenen Götzen, inmitten von Scherben, Kot und Löwenmäulchen, der Froschkönig. Lieblos mundgeschnitzt, phantasielos grün angemalt und mit einem mächtigen Zacken in der Krone, wird er heute nicht mal mit dem Arsch angeschaut. Doch geht das Herz uns trotzdem auf: Dieser amphibische Kitschquatsch, dieser nichtige Klumpen Holz, an dem kein Traum und keine Hoffnung mehr klebt – steht er nicht exemplarisch für den Exportschlager „deutsches Kulturgut“? Für deutsche Märchen, die leider nicht immer gut ausgehen? Schon. Doch vielleicht erhört Prinzessin Europa dermaleinst den afrikanischen Stinkefrosch, küßt ihn wach und verwandelt ihn – endlich! – wieder in einen richtigen Menschen aus Holz. Bis es soweit ist, fahren wir wieder dorthin, wo es schön ist. Nach Hause. Unsere Stunde wird kommen.

Deutschland sagt „Guten Tag“

 

Fischer / Ziegelwagner, Hintner

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Persönlich, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck,

nehmen Sie inzwischen offenbar alles. Über den russischen Präsidenten sagten Sie im Spiegel: »Putin war in den Achtzigerjahren die Stütze meiner Unterdrücker.« Meinen Sie, dass der Ex-KGBler Putin und die DDR es wirklich allein auf Sie abgesehen hatten, exklusiv? In dem Gespräch betonten Sie weiter, dass Sie »diesen Typus« Putin »lesen« könnten: »Ich kann deren Herrschaftstechnik nachts auswendig aufsagen«.

Allerdings hielten Sie sich bei dessen Antrittsbesuch im Schloss Bellevue dann »natürlich« doch an die »diplomatischen Gepflogenheiten«, hätten ihm aber »schon zu verstehen gegeben, was ich von ihm halte«. Das hat Putin wahrscheinlich sehr erschreckt. So richtig Wirkung entfaltet hat es aber nicht, wenn wir das richtig lesen können. Wie wär’s also, Gauck, wenn Sie es jetzt noch mal versuchen würden? Lassen Sie andere Rentner/innen mit dem Spiegel reden, schauen Sie persönlich in Moskau vorbei und quatschen Sie Putin total undiplomatisch unter seinen langen Tisch.

Würden als Dank auf die Gepflogenheit verzichten, Ihr Gerede zu kommentieren:

die Diplomat/innen von der Titanic

 Du, »Brigitte«,

füllst Deine Website mit vielen Artikeln zu psychologischen Themen, wie z. B. diesem hier: »So erkennst Du das ›Perfect-Moment -Syndrom‹«. Kaum sind die ersten Zeilen überflogen, ploppen auch schon die nächsten Artikel auf und belagern unsere Aufmerksamkeit mit dem »Fight-or-Flight-Syndrom«, dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem »Ritter-Syndrom« und dem »Dead- Vagina-Syndrom«. Nun sind wir keine Mediziner/innen, aber könnte es sein, Brigitte, dass Du am Syndrom-Syndrom leidest und es noch gar nicht bemerkt hast? Die Symptome sprechen jedenfalls eindeutig dafür!

Meinen die Hobby-Diagnostiker/innen der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

Vermischtes

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Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt