Inhalt der Printausgabe

TITANIC-GOURMET-TREND

Der Stoff, aus dem die Träume sind

Philosophen, Soziologen und Fußballtrainer rätseln: Was hält die Gesellschaft eigentlich noch zusammen? Die Antwort ist so einfach wie prickelnd: Schokolade. Überall in Deutschland reißt das Papier, raschelt die Alufolie, knacken die Riegel – Deutschland knabbert sich in einen totalen Furor hinein. Da wird geschleckt und geknuspert, gelutscht und auf der Zunge zergangen, daß es eine regelrechte Wonne ist. Denn Schokolade ist einerseits vitaminreiches Grundnahrungsmittel für Millionen, andererseits aber der totale Szene-Snack, eine erlesene Kostbarkeit für Genießer, eine Wissenschaft für sich. Und auch ein totaler Dickmacher: 100 Gramm haben über 600 Kilokalorien! Wer’s weiß, ist schlauer!

 

Wie konnte Schokolade es dahin bringen? Was ist das Geheimnis des »braunen Goldes« bzw. »der Schoki«? Warum sind so viele Menschen abhängig von dem zarten Schmelz? Und zahlen Mondpreise für den Kack? Warum sind selbst tätowierte Knastbrüder so scharf auf den »Stoff, aus dem die Träume sind«, daß sie ihre hart verdienten 90 Cent täglich für eine muffige Tafel Schokolade am Gefängniskiosk hergeben?

 

Offenbar steckt in Schokolade etwas drin, das abhängig macht. Wahrscheinlich Geld, mit Sicherheit aber Zucker. Und natürlich Bohnen, wie Lebensmitteltechnologen herausfanden – meist sogar gebackene Bohnen. Diese wiederum enthalten eine psychoaktive Substanz, die den Menschen Glück vorspielt, wo gar keines ist. Alleinstehende Personen mit Neigung zu Schwärmerei, Übergewicht und Herzinfarkt lassen sich davon täuschen und verfallen der scheinbar harmlosen Süßigkeit. Verschärft wird dies durch hochriskante Zusatzstoffe, die gewissenlose Hersteller ihren Rezepturen beigeben: in Milchschokolade ist es Milch, in Nußschokolade ist es Nuß, in Kinderschokolade ist es Kind – für so viel Genuß muß man halt auch mal Opfer bringen!

 

Apropos: Die alten Azteken entdeckten als erste die wohltuende Kraft der Schokolade. Wenn sie zu Ehren ihres Schokogottes mal wieder irgendwelchen Leuten den Brustkorb aufschnibbelten, die Eingeweide rausrissen und alles zusammen mit Schmakkes die Pyramidentreppe runterwarfen, aßen sie dazu gern ein leckeres Stück Schokolade und machten hinterher stundenlang Liebe mit süßen Frauen oder bezaubernden Pelztieren. Das war allerdings damals eine sehr rohe, krümelige Schokoladenqualität, der Blockschokolade vergleichbar, wie man sie seit einigen Jahren lediglich noch von bösen Omis geschenkt bekommt. Heutzutage würde man sowas keinem Schwein mehr in den Trog kippen, heutzutage müssen es vielmehr extrem raffinierte Gourmetqualitäten sein – zum Beispiel feinste Schokoladenkompositionen mit Chilischoten, Macadamianüssen, Basilikumblättern, Meersalz, Hackfleisch und lebenden Kaulquappen.

 

Der wichtigste Trend der Zeit ist jedoch: Je dunkler, desto besser! Das heißt: Die Schokoladenmasse sollte zu 80, 90 oder 110 Prozent aus Edelkakao (»Nesquik«) bestehen. Dieser wird während der Herstellung reingegossen, fließt im Labor stundenlang durch so Kolben und Röhren und verdampft dann irgendwie. Übrig bleibt: Schokolade! So geheimnislos wie doof. Wird aber trotzdem wegschnabuliert wie nichts Gutes. Erfunden und patentiert wurde dieses aufwendige Verfahren übrigens 1879 von dem Schweizer Kinderarzt Rodolphe Milka. Für Leute ohne Zähne erfand er auch noch die Trinkschokolade, gegen schlechten Atem die Pfefferminzschokolade, zum Frühstück das Kakaobutterbrot und für Prostituierte Nutella.

 

Verwöhnte Feinschmecker bevorzugen allerdings etwas völlig anderes, nämlich Jahrgangsschokolade aus besten Lagen und edlen Zutaten (Gold, Silber, Emulgator Lecithin). Der wahre Kenner frißt solche hochprozentigen Sorten auch nicht einfach so Riegel für Riegel weg, sondern er kaut und malmt ein wenig an einem etwa faustgroßen Brocken herum, zermatscht ihn dann mit dem Gaumen, schmilzt ihn mit der Zunge klein, spitzt die Lippen und spürt dann mit seinen hochentwickelten Geschmacksnerven den feinen Aromen subtil hinterher, bis der ganze zartbittere Schleim im Schlund versenkt bzw. molekular hinwegdiffundiert ist. Und dann ist er stundenlang zufrieden.

 

Hoffentlich erzählt ihm in dieser Zeit des nachhallenden Hochgenusses keiner was vom jüngsten Lebensmittelskandal aus Belgien. Es ist der Schokoschock No.1 und ein Schlag ins Gesicht aller Schokoholiker: In ausgewählten Schokoladen der besten Hersteller soll was ganz Ekliges gefunden worden sein, getrockneter Kuhdung oder gemahlene Darmzotten oder so was. War aber – puh! – Gott sei Dank nur ein Gerücht; erzählen Sie’s nicht weiter, danke schön!

 

Mark-Stefan Tietze

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Clever, »Brigitte«!

Du lockst mit der Überschrift »Fünf typische Probleme intelligenter Menschen«, und wir sind blöd genug, um draufzuklicken. Wir lernen, dass klug ist: wer mehr denkt, als er spricht, wer sich ungeschickt im Smalltalk anstellt, wer sich im Job schnell langweilt, wer sich mit Entscheidungen schwertut, wer bei Streit den Kürzeren zieht und wer ständig von Selbstzweifeln geplagt wird.

Frustriert stellen wir fest, dass eigentlich nichts von alledem auf uns zutrifft. Und als die Schwachköpfe, die wir nun einmal sind, trauen wir uns fast gar nicht, Dich, liebe Brigitte, zu fragen: Waren das jetzt nicht insgesamt sechs Probleme?

Ungezählte Grüße von Deiner Titanic

 Wir wollten, »SZ«,

nur mal schnell Deine Frage »Gedenkbäume absägen. Hinweistafeln mit Hakenkreuzen beschmieren. Wer macht sowas?« beantworten: Nazis.

Für mehr investigative Recherchen wende Dich immer gerne an Titanic

 Ach, Scheuer-Andi,

wie der Spiegel meldet, wird niemand für Sie in den Bundestag nachrücken. Da scheinen die Fußstapfen wohl einfach zu groß zu sein.

Die Besten gehen immer zu früh …

Weiß Titanic

 Aha bzw. aua, Voltaren!

Das wussten wir gar nicht, was da in Deiner Anzeige steht: »Ein Lächeln ist oft eine Maske, die 1 von 3 Personen aufsetzt, um Schmerzen zu verbergen. Lass uns helfen. Voltaren.«

Mal von der Frage abgesehen, wie Du auf die 1 von 3 Personen kommst, ist es natürlich toll, dass Du offenbar eine Salbe entwickelt hast, die das Lächeln verschwinden lässt und den Schmerz zum Vorschein bringt!

Gratuliert salbungsvoll: Titanic

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Citation needed

Neulich musste ich im Traum etwas bei Wikipedia nachschlagen. So ähnlich, wie unter »Trivia« oft Pub-Quiz-Wissen gesammelt wird, gab es da auf jeder Seite einen Abschnitt namens »Calia«, voll mit albernen und offensichtlich ausgedachten Zusatzinformationen. Dank Traum-Latinum wusste ich sofort: Na klar, »Calia« kommt von »Kohl«, das sind alles Verkohl-Facts! Ich wunderte mich noch, wo so ein Quatsch nun wieder herkommt, wusste beim Aufwachen aber gleich, unter welcher Kategorie ich das alles ins Traumtagebuch schreiben konnte.

Alexander Grupe

 Finanz-Blues

Wenn ich bei meiner langjährigen Hausbank anrufe, meldet sich immer und ausnahmslos eine Raiffeisenstimme.

Theobald Fuchs

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Dual Use

Seit ich meine In-Ear-Kopfhörer zugleich zum Musikhören und als Wattestäbchen verwende, stört es mich gar nicht mehr, wenn beim Herausnehmen der Ohrstöpsel in der Bahn getrocknete Schmalzbröckelchen rauspurzeln.

Ingo Krämer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg