Inhalt der Printausgabe

Die schlesische Stunkfunze

Verehrt, vereinnahmt, vergessen:
Über den schlesischen Komiker Ludwig Manfred Lommel

 

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Ich war ein Hitlerjunge mit 'ner Trommel,
Mein Volksaufklärer, das war Ludwig Manfred Lommel.
Auf der Vernunft, was meine Wunde war, da hatt' ich dicken Schorf,
Das was mir das Größte schien, das war der Freiheitssender Runxendorf

Der Breslauer Wolfgang Neuss: »Neuss Testament«, 1966

 

Ludwig Manfred Lommel: Vortragskünstler, Großimitator, Schlesier

Von Christian Meurer

 

Dem Ganzen vorgeblendet sei die bekannte Misere: Nämlich eröffnet einerseits der »Schlesien bleibt deutsch«-Blickwinkel der Vertriebenenfunktionäre ja tatsächlich kaum anderes als schwarzbraun gefilterte Perspektiven; andererseits fällt die Sorte Öffentlichkeitsschranzen, die in partout jedes Erinnern an die dt. Ostgebiete nazideutschen Revanchismus hineinprojiziert, auch nicht sachdienlicher auf. Alle anderen Facetten hat dieses Monopol-Spektrum inzwischen so verdunkelt, daß Rückblicke jenseits dieser kontrastarmen Einfärbungen – abgesehen von Rezepten, Riesengebirge, Rübezahl & Co. – mittlerweile schon als unausdenkbar diffiziles Beginnen erscheinen.

 

Die ressentimentgetrübten Linsen etwas aufzupolieren würde jedenfalls einem gerade gerecht: dem schlesischen Komiker Ludwig Manfred Lommel.

 

Mit ihm resp. seinen erhaltenen Radio- und Plattensketchen steht nämlich ein recht ungewohntes Schlesien noch einmal auf: jene nach dem Ersten Weltkrieg gebietsverkleinerte, bis 1933 durchweg SPD-regierte preußische Provinz, deren Bevölkerung die NS-Rassekundler später wegen allzu großer Durchmischung den Germanen kaum noch zuschlagen mochten und deren Naturell als Gemengsel aus verhocktester Stübchengemütlichkeit und fixester Situationstrickserei beschrieben wird. Lommel war Fleisch von diesem Fleische, durchbeizt überdies von reichlich Lebens-Auf-und-ab: Am 10. Januar 1891 wird er, 70 Kilometer westlich von Breslau in Jauer an der wütenden Neiße, in gediegenste Villenverhältnisse hineingeboren: Vater Lommel ist Tuchfabrikant. Nach dem Umzug ins nahe Neukirch gibt Lommel jr. in Untertertia vor der Klasse komplette »Wallenstein«-Szenen alleine wieder und kann als stürmischer Piccolomini mokante Untertöne ebensowenig unterdrücken wie als sopransäuselnde Thekla oder brummiger Isolani. Die Mitschüler jauchzen. Sie kennen ihn schon als Spezialisten für Frosch- und Hühnergeräusche auf dem Pausenflur.

Schlesien war längst polnisch, da konnte der Westdeutsche, ob neuerdings oder immer schon, sich den Sender Runxendorf in mannigfacher Variation auf den Plattenteller legen

Nach der mittleren Reife 1908 verschiebt ihn der Vater zu Geschäftsfreunden nach Bremen, die aber umgehend reklamieren: Statt sich in Ballen und Preislisten umzutun, nimmt ihr Volontär lieber Schauspielunterricht und hilft im Studenten-Schwank »Alt Heidelberg« als Liebhaber Prinz-Karl-Heinrich, noch lieber als gewiefter Kammerdiener Lutz aus. So strafversetzt Lommel senior den Filius zu britischen Partnern nach London und Manchester, die den Azubi aber auch nicht zu bändigen vermögen: Lieber guckt der sich bei Vaudeville-Profis in Varietés und Music-Halls Know-how ab. Bühnenbesessen debütiert er ohne Gage als »Charles Holmes« im Prince-Theatre von Shanklin auf der Insel Wight. Seine zweite Frau Karla in einem Radio-Interview von 1982: Manchmal hat er noch die Leute bestochen, hat was zubezahlt, damit er überhaupt auftreten konnte. Und sein schönstes Erlebnis, was er immer wieder schilderte, war, daß er einen Eimer gehalten hat, hinter der Bühne, als Caruso auftrat, wenn der dann zwischendurch mal spucken mußte.

 

1910 hebt man den verkrachten Kommis dann nach Schweidnitz ins 2. Schlesische Feldartillerie-Regiment Nr. 42 aus: Als »Einjähriger« durchs Eulengebirge zu krauchen wird fürs erste die letzte ökonomisch sorglose Beschäftigung bleiben: Vater Lommels Stoff-Imperium frißt der Pleitegeier. Nach dem Barras quält Jung-Lommel sich also notgedrungen als Vertreter, macht in »Ölen und Fetten«. Es war das letzte Jahrzehnt vor der Elektrifizierung der deutschen Provinz, und Lommel stieg den Bauern mit Benzol für ihre Stallfunzeln und »Staufferfett« zum Achsenschmieren hinterher. Den Metiermief komprimierte er später in einem Couplet: Herr Linkel sagt, es hat kein’ Zweck /Herr Hoffmann sagt, das Öl sei Dreck / Herr Piepke schreit, wohin möchte’s führ’n /Möchte ich ’nen jeden jetzt erhör’n /Vor Ölen und vor Fetten /Kann man sich nicht mehr retten /Die Kerle mit Benzin-Benzol’n /Die soll doch gleich der Deibel hol’n / ’s ist woahr! ’s ist woahr! ’s ist woahr! Pfui Deubel nochemal!

 

Im August 1914 folgt der Privat- die Weltkatastrophe, Wilhelms Mobilmachung kriegt Ludwig Manfred schon am dritten Tag zu fassen. Kurz vor dem Ausrücken seiner Batterie sieht er bei den Kanonen einen Bauern in Landestracht, nämlich schäbigem »Schwenker«-Gehrock und großem Steifhut stehen: eine schicksalhafte Begegnung, wie man sehen wird, der Geschützpark-Betrachter stellt sich ihm jedenfalls als »Paul Neugebauer« vor.

 

Vier Jahre Kriegstheater an der Ostfront in sicherem Artillerie-Abstand zur Hauptkampflinie füllen Leutnant Lommels längst gewissenhaft geführtes
Typen-Register weiter an (Repertoire-Novum an öden Kasinoabenden: Imitation von Automobil- und Flugzeugmotoren). Ernst wird es erst wieder im November 1918, beim Einmotten der kaiserlichen Montur: Inzwischen verheiratet und mit den Kindern Hans und Ruth zweifacher Familienvater, fehlt Lommel noch immer jede Berufsausbildung. So kämmt er wie viele Ex-Armeechargen als »Weinreisender« deutsche Gaue durch und brütet nebenbei über Erfindungen, wobei »Lommels Lokopur«, ein Papierklobrillenbelag für unterwegs, auf den ihn Hygienezustände in der Reichsbahn gestoßen haben, nur deshalb nicht in Serie geht, weil die deutsche Brille noch nicht genormt ist.

 

Zwischenzeitlich war Lommel in die klaffendste Marktlücke gestolpert: dem abgesehen von Suff, Dorfmusik und etwas Wanderzirkus notorisch eintönigen Dasein der ländlichen Kundschaft. Lommels Konter: ein Ein-Mann-Cocktail, gemixt aus britischem Comedy-Versatz und schlesischen Dorfblüten. Statt an Erfindungen bosselt er nun an kleinen, mehrstimmigen Sketchen herum und geht damit auf Tour, tingelt die nächsten Jahre mit dem Fahrrad als Plakatkleber, Kassierer, Platzanweiser, Beleuchter, Alleinunterhalter und Dorfschönen-Charmeur durch Bober-Katzbach-Gebirge, Görlitzer Heide und die Glatzer Bäderlandschaft und strampelt sich zäh vom Dorfkasper zur Zugnummer hoch. Der erste Auftritt in Breslaus »Festhaus für Vaterländische Kultur«, 1924, ist dann schon gar kein Risiko mehr.

 

Die Sketchtexte unterm Arm, spricht Lommel anschließend in der Kaiser-Wilhelm-Straße vor: Im einstigen Oberbergamt hat sich gerade die »Schlesische Funkstunde« etabliert, und schon die erste Sendung am 26. Mai 1924 hatte unfreiwillig Lommelscher Diktion entsprochen. Sendeleiter Fritz Gaste später: Die Übergabe fand ja statt durch den Oberpräsidenten der damaligen Provinz Schlesien, SPD-Oberpräsident Hermann Zimmer. Und bei der endgültigen Übergabe verhaspelte sich der Oberpräsident in einer so schaurigen Weise, daß es wohl für alle Teilnehmer recht peinlich war. Es endete von schlesischer Funkstunke schließlich bei dem Wort schlesische Funkstunze bzw. Stunkfunze. Wenn man weiß, daß das Wort Funze in Schlesien eine ganz besondere Bedeutung hat, ein schlechtes Licht wird damit bezeichnet, so war das keine große Empfehlung. 

 

Den Fehlstart machte ein Funkpionier rasch wett: Dramaturg Friedrich Bischoff, vom Stadttheater weg als »Literarischer Leiter« verpflichtet, brachte den Südostausleger des republikanischen Sendebetriebs mit Experimentierfreude schnell nach vorn. »Funkstunden«-Reporter rückten als erste zu Live-Übertragungen aus, mit Schallplatteneinspielungen wurde das erste noch erhaltene Hörspiel »Hallo, hier Welle Erdball« produziert, Avantgarde-Komponisten tönten, Schlesiens beste Volkskünstler kamen vors Mikrophon.

 

Lommels Mappe überflog Bischoff skeptisch: Na ja, ich halte nichts davon, aber lassen Sie den Mann mal rein. Lommel tischte aus dem Stegreif eine Zwölf-Personen-Szene auf – und ging mit dem Auftrag für einen tragfähigen Serien-Hintergrund wieder raus.

 

Fortan schaltete die Funkstunde regelmäßig auf eine Nebenstelle um: den »Sender Runxendorf auf Welle 0,5«. Zentrales Trio dieser Radio-Chimäre waren der Hinterwäldler-Filou Paul Neugebauer (Vorbild: der Landmann am Schweidnitzer Geschützpark), dessen Hausdrache Pauline und der wortlos Klavier spielende Kutscher Herrmann – beide, wie auch die Lokalität des Studios, Ausgeburten Lommelscher Erfahrungen mit der schlesischen Landgastronomie. Ergänzt wurde nach Bedarf: Im chronisch erkälteten Kantor Stockschnupfen verewigte Lommel seinen alten Klavierlehrer, auf einer Gutsfestgesellschaft wollte er den degenerierten Adelssproß Rülps von Knüllrich angetroffen haben. Unablässig neue Figuren erzeugte das Durchkämmen des Runxendorfer Kosmos: Paul und Pauline Neugebauer beim Arzt, auf dem Finanzamt, dem Rathaus, vorm Scheidungsrichter, auf dem Bahnhof, bei Treibjagd und »internationaler Ringkampfkonkurrenz«, im Schwimmkurs im Runxendorfer Hallenbad, beim Roulette in Monte Carlo, bei der Feuerwehrversammlung und bei Reserveübungen in der Runxendorfer Garnison.

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wie kommt’s, »Krautreporter«?

In einem Artikel zum Thema »Konkurrenz im Job« stellst Du die These auf: »Konkurrenz ist nicht so verpönt wie ihr Ruf.« Aber warum? Was hat der Ruf der Konkurrenz denn bitte verbrochen? Womit hat er seinem Renommee so geschadet, dass er jetzt sogar ein schlechteres Image hat als die Konkurrenz selbst? Und weshalb verteidigst Du in Deinem Artikel dann nur die Konkurrenz und nicht ihren Ruf, der es doch viel nötiger hätte?

Ruft Dir fragend zu:

Deine genau im gleichen Ausmaß wie ihr Ruf verpönte Titanic

 Nachdem wir, »Spiegel«,

Deine Überschrift »Mann steckt sich bei Milchkühen mit Vogelgrippe an« gelesen hatten, müssen wir selbst kurz in ein Fieberdelirium verfallen sein. Auf einmal waberte da Schlagzeile nach Schlagzeile vor unseren Augen vorbei: »Affe steckt sich bei Vögeln mit Rinderwahnsinn an«, »Vogel steckt sich bei Mann mit Affenpocken an«, »Rind steckt sich bei Hund mit Katzenschnupfen an«, »Katze steckt sich bei Krebs mit Schweinepest an« und »Wasser steckt sich bei Feuer mit Windpocken an«.

Stecken sich auf den Schreck erst mal eine an:

Deine Tierfreund/innen von Titanic

 Mahlzeit, Erling Haaland!

Mahlzeit, Erling Haaland!

Zur Fußballeuropameisterschaft der Herren machte erneut die Schlagzeile die Runde, dass Sie Ihren sportlichen Erfolg Ihrer Ernährung verdankten, die vor allem aus Kuhherzen und -lebern und einem »Getränk aus Milch, Grünkohl und Spinat« besteht.

»Würg!« mögen die meisten denken, wenn sie das hören. Doch kann ein Fußballer von Weltrang wie Sie sich gewiss einen persönlichen Spitzenkoch leisten, der die nötige Variation in den Speiseplan bringt: morgens Porridge aus Baby-Kuhherzen in Grünkohl-Spinat-Milch, mittags Burger aus einem Kuhleber-Patty und zwei Kuhherzenhälften und Spinat-Grünkohl-Eiscreme zum Nachtisch, abends Eintopf aus Kuhherzen, Kuhleber, Spi… na ja, Sie wissen schon!

Bon appétit wünscht Titanic

 Moment, Edin Hasanović!

Sie spielen demnächst einen in Frankfurt tätigen »Tatort«-Kommissar, der mit sogenannten Cold Cases befasst ist, und freuen sich auf die Rolle: »Polizeiliche Ermittlungen in alten, bisher ungeklärten Kriminalfällen, die eine Relevanz für das Jetzt und Heute haben, wieder aufzunehmen, finde ich faszinierend«, sagten Sie laut Pressemeldung des HR. Ihnen ist schon klar, »Kommissar« Hasanović, dass Sie keinerlei Ermittlungen aufzunehmen, sondern bloß Drehbuchsätze aufzusagen haben, und dass das einzige reale Verbrechen in diesem Zusammenhang Ihre »Schauspielerei« sein wird?

An Open-and-shut-case, urteilt Titanic

 An Deiner Nützlichkeit für unsere Knie, Gartenkniebank AZBestpro,

wollen wir gar nicht zweifeln, an Deiner Unbedenklichkeit für unsere Lungen allerdings schon eher.

Bleibt bei dieser Pointe fast die Luft weg: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Unübliche Gentrifizierung

Zu Beginn war ich sehr irritiert, als mich der Vermieter kurz vor meinem Auszug aufforderte, die Bohr- und Dübellöcher in den Wänden auf keinen Fall zu füllen bzw. zu schließen. Erst recht, als er mich zusätzlich darum bat, weitere Löcher zu bohren. Spätestens, als ein paar Tage darauf Handwerkerinnen begannen, kiloweise Holzschnitzel und Tannenzapfen auf meinen Böden zu verteilen, wurde mir jedoch klar: Aus meiner Wohnung wird ein Insektenhotel!

Ronnie Zumbühl

 Beim Aufräumen in der Küche

Zu mir selbst: Nicht nur Roger Willemsen fehlt. Auch der Korkenzieher.

Uwe Becker

 Dialog auf Augenhöhe

Zu meinen Aufgaben als Marketingexperte in einem modernen Dienstleistungsunternehmen gehört es unter anderem, unzufriedene Kunden zu beschwichtigen. Vor kurzem beschwerte sich einer von ihnen darüber, dass wir in unseren Texten immer dieselben Bausteine verwenden. Die Mail ließ mich ganz irritiert zurück. Ein Glück, dass wir für genau solche Anfragen gleich fertige Antworten haben.

Andreas Maier

 Der kästnerlesende Bläser

Es gibt nichts Gutes
außer: Ich tut’ es.

Frank Jakubzik

 Zeitsprung

Dem Premierenpublikum von Stanley Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum« wird der Film 1968 ziemlich futuristisch II vorgekommen sein.

Daniel Sibbe

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
03.08.2024 Kassel, Caricatura-Galerie Miriam Wurster: »Schrei mich bitte nicht so an!«
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst Die Dünen der Dänen – Das Neueste von Hans Traxler
04.08.2024 Frankfurt/M., Museum für Komische Kunst »F. W. Bernstein – Postkarten vom ICH«
09.08.2024 Bremen, Logbuch Miriam Wurster