TITANIC Gold-Artikel
Wie ein rohes Ei im Wind – Einige tiefe Gedanken über unsere Gesellschaft in Zeiten von Corona
Die Coronakrise verändert die Welt, unsere Gesellschaft und letztendlich auch das Individuum, das heißt uns alle. Die Situation, in der wir uns aufgrund des (oder das?) Virus befinden, hinterlässt den Eindruck einer aus der Fiktion in die Realität übertragenen Simulation, die uns aufzeigt, wie schnell die hauchdünne Schale der Zivilisation zerbersten und ihren Inhalt, nein, ihren Kern freilegen kann! Und was liegt da nun bloß und nackt unter dem Teleskop der soziologischen Laboratorien? Doch nicht weniger – allerdings auch nicht mehr – als der Mensch an sich!___STEADY_PAYWALL___
Zu beobachten ist seine immense Zerrissenheit durch die momentan große Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, denn es geschehen stets mehrere Dinge im gleichen Moment. Jetzt zum Beispiel. Und jetzt. Häufig überschlagen sich die Ereignisse, denn das ist eine ihrer ureigensten Eigenschaften, vielleicht sogar ihr Definiticus singulus. Doch wie kann der Mensch Schutz finden und verhindern, von einem der herumfliegenden Ereignisse erschlagen zu werden? Dazu später mehr.
Die Coronakrise transformiert jede Form des menschlichen Miteinanders, dem kann sich auch der Mensch nicht entziehen. In diesen Zeiten des Ausnahmezustands springt vor allem ein neu beobachtetes Phänomen schmerzlich ins Auge: die paradoxe Dichotomie des gesellschaftlichen Wandels. Vor einigen Wochen hatten viele Friseursalons noch geöffnet (auch unser Stammfriseur Jean-Paul Sahaatre), nun sind sie geschlossen. Sie haben sich folglich von einem Zustand in einen anderen bewegt und haaren (sic!) nun auf bessere Zeiten. Dies ist ein Sinnbild, wenn nicht sogar eine Metapher für die Gesellschaft an sich.
Viele Menschen dieser Bundesrepublik bewegen sich gerade im ständigen Wechsel zwischen Zuständen, die vor allem durch ihre Unterschiedlichkeit geprägt sind: Unser Alltag besteht aus Schlafen und Aufwachen, Arbeiten und entspannt Heidegger lesen, Lisa Eckhart bewundern und darüber lügen, Heidegger zu lesen. Was macht diese strenge Aufteilung mit der Gesellschaft? Sie hat sich in ihr Gegenteil verkehrt: Vieles, was früher draußen stattfand, muss nun ins Private zurückgezogen werden. Sei es Arbeit, Essen oder unsere Sexualität. Zudem fand eine andere, weitaus erschütternde Transformation statt: vom Nichts in das Seiende. Früher ging niemand joggen, weil es sich um eine in ihrer Furchtbarkeit grotesk offensichtliche Freizeitaktivität handelt. Nun gehen alle joggen, weil die Furchtbarkeit geringer ist als das Maß derselben in ihrem restlichen Leben. So kann es gehen.
Doch diese Veränderungen kratzen höchstens an der Oberfläche des gesellschaftlichen Eisbergs, dessen charakteristische Eigenschaft bekanntlich sein verborgenes Volumen unter der Oberfläche ist. Welche Rädchen des Unterbewusstseins bewegen sich in uns allen? Neben steigender räumlicher Distanz verspüren wir auch eine steigende innere Vertrautheit. Denn nichts kann zwei Individuen so sehr verbinden wie das doppelte, weil zwangsläufig gegenseitige, Betrachten der Bücherwände des anderen. Die stolz präsentierten Originalausgaben, in Szene gesetzten Abhandlungen und Nummer Einsen der "Spiegel"-Bestsellerlisten werden – hoffentlich! – als tiefer Blick in unser Innerstes wahrgenommen. Auch von der Desillusionierung der eigenen Schambehaftetheit – man stellt fest, dass wirklich jeder Klopapier benötigt – geht eine sehr hohe Strahlkraft gesellschaftlicher Verbindung aus.
Andere gesellschaftliche Tendenzen treiben uns eher auseinander, wie der Warentrenner im überquellenden Supermarkt unser Klopapier von dem unserer Ehegattin trennt, weil jetzt jeder für sich allein kämpfen muss und gerade erst in unser Bewusstsein gedrungen ist, dass sie ebenfalls welches verbraucht. Auch arrhythmisches Klatschen von den umliegenden Terrassen kann zur Spaltung der Gesellschaft beitragen. Stimmt es uns doch melancholisch und wehmütig, da es uns daran erinnert, dass wir eine moderate Opernsaison verpassen. Aus all diesen Begebenheiten ergibt sich lediglich eine vernunftbegabte Lösung: die sofortige Abschaffung des sogenannten Privatfernsehens, auch wenn dadurch eine wichtige Erkenntnisquelle des Feuilletons verlustiert geht. Zum Glück bleibt uns immer der Deutschrap.
Darauf muss zwangsläufig die Konglomerierung von ARD und ZDF zu einer gemeinsamen Speerspitze des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die Reduzierung auf lediglich einen Fernsehsender folgen. Die Linearität des Fernsehens ist der nötige Kitt, um die Deutschen auch in der Isolation wieder zusammenzuschweißen, selbst oder gerade wenn dieses auf den ersten Blick paradox erscheinen mag. Denn die verbindenden Zentrifugalkräfte der gemeinsam, wenn auch unabhängig voneinander erlebten Medienrezeption könnten erreichen, was seit ´89 vergeblich versucht wurde: Gemeint ist – nur um das auch ausbuchstabiert zu haben – selbstredend die Einigung Deutschlands.
Zumindest auf das Fernsehprogramm und damit auf ein gemeinsames Gesprächsthema von Balkon zu Balkon. Diese verbindende Erfahrung wird Balsam auf die zerstörte Seele des durch die Postmoderne Vereinzelten reiben. Das wird zunächst beim Einziehen brennen, aber dann hilft es. Aus der Reduzierung der Fernsehsender ergeben sich selbstredend nachdenkenswerte Themen, die genauer unter der Lupe des deutschen Feuilletons beleuchtet werden sollten: Die Kulturgeschichte des Nachbarschaftsgesprächs beispielsweise, dieser eine nun von allen rezipierte Spielfilm im ZDF und die große Frage, was der Deutschrap mit der Coronakrise macht. Letztendlich können wir nur auf einem Weg durch diese Krise kommen: gemeinsam, und doch nebeneinander.
Laura Brinkmann